Alexandra Beran
ist Ärztin, Beraterin zum Thema
Foto: privat
Alexandra, erzähle gerne kurz etwas zu dir und deiner Geschichte. Was hat dich im Thema Underachievement besonders bewegt?
Ich empfinde mich selbst auch als Underachieverin. In der Schule war ich immer sehr mittelmäßig. Dass ich hochbegabt sein könnte, kam mir nie in den Sinn. Auch später im Studium habe ich eher gedacht, dass ich vielleicht nicht so intelligent bin, weil ich den einen oder anderen Schein doppelt machen musste. Mir ist nicht aufgefallen, dass ich nie gelernt habe. Ich habe meine Schulzeit in keiner guten Erinnerung, wurde ausgegrenzt, passte oft nicht rein. Mit diesen Erfahrungen bin ich in der Rolle als Mutter mit schulpflichtigen Kindern gestartet. Als dann die Probleme bei den Kindern auftraten, wusste ich nicht, wie ich ihnen helfen kann. Ich hatte selbst keine guten Strategien, die ich meinen Kindern hätte weitergeben können. Heute, nachdem ich mich seit über 15 Jahren mit dem Thema
Was war für dich und deine Familie damals an der Situation besonders herausfordernd?
Die eigene Hilflosigkeit war schlimm. Es war lange keiner da, der mich unterstützen konnte, weil ich einfach niemanden finden konnte, der sich mit dieser Thematik auskennt. Dabei ging es für uns als Familie nie darum, dass unsere Kinder besondere
Ich habe mich schon sehr von den Lehrkräften unter Druck setzen lassen. Mein mittlerer Sohn hat viel Ärger in der Schule gemacht. Das war schwierig, wenn man von der Schule immer nur hört: „Machen Sie, dass Ihr Kind funktioniert.“ Ich weiß nicht, wie oft ich heulend im Lehrergespräch saß. Man ist als Eltern schnell in einer geschwächten Position und kann sein Kind so natürlich nicht gut vertreten. Wir wollten mit der Schule keinen Ärger haben, also haben wir den Druck an das Kind weitergegeben, was im Nachhinein betrachtet ganz furchtbar war. Wir haben dann zu unserem Kind gesagt: „Jetzt hör’ doch mal auf damit, jetzt pass’ dich an.“ Wir wurden zum verlängerten Arm der Schule, was dazu geführt hat, dass es zu Hause auch schlecht lief.
Was hat dazu geführt, dass sich die Situation verbessert hat? Gab es bestimmte Wendepunkte oder Ereignisse?
Wir hatten das Thema ja mal drei. Und alle drei Kinder haben ganz unterschiedlich auf die Situation reagiert und ganz unterschiedliche Dinge von uns gebraucht.
Was uns als Familie insgesamt geholfen hat, war eine gute Beratung. Nach vielen Versuchen sind wir irgendwann endlich bei einer Beraterin gelandet, die uns mit unseren Herausforderungen helfen konnte. Sie hat ganz viele Perspektivwechsel reingebracht und uns so die Bedürfnisse und die Nöte unserer Kinder klargemacht. Wir konnte dadurch besser verstehen, warum unsere Kinder nicht im Schulsystem zurechtkommen. Gerade für Eltern, die selbst eher geräuschlos durch die Schule gegangen sind, ist das sehr augenöffnend. Es war auch unglaublich wichtig, dass wir uns beide als Eltern um das Thema gekümmert und ein gemeinsames Verständnis entwickelt haben.
Die Beratung hat uns in der akuten Situation mit den Kindern geholfen, aber auch angestoßen, dass ich mich mit meiner eigenen Bildungsgeschichte und meiner
Was ich als eine wahnsinnige Entlastung empfunden habe, war der Erziehungsbeistand. An die Fernschule, die unser mittlerer Sohn als letztes besucht hat, kann man nur mit Erziehungsbeistand über das Jugendamt wechseln. Der Beistand kümmerte sich fortan um die schulischen Dinge. Das hätte ich mir in den Jahren davor, als es so schlimm war, schon sehr gewünscht, denn dadurch hätten wir einfach nur Eltern sein können.
Meine Kinder haben außerdem enorm vom Kontakt zu anderen hochbegabten Kindern profitiert. Wir haben vor allem über den Verein Mensa andere Familien kennengelernt. Auch für uns als Eltern war der Austausch mit anderen sehr hilfreich. Man fühlt sich nicht mehr so allein mit seinen Problemen.
Welche Fähigkeiten brauchen Eltern, deren Kinder gerade mit Underachievement zu kämpfen haben?
Gerade mit hochbegabten Kindern muss man als Eltern Dinge aushalten können. Unsere Kinder konnte man extrinsisch nicht viel motivieren. Wenn sie nicht wollten, dann war da nichts dran zu rütteln. Dann mitzugehen als Eltern – auch bei solchen Entscheidungen, wie nicht mehr zur Schule gehen zu wollen – das war wirklich ein Wendepunkt. Auch wenn wir gleichzeitig vielleicht dachten: „Das ist eine Katastrophe! Ein hochintelligenter Mensch, der nicht zur Schule geht, kein Abitur macht, der nicht studiert …“ Aber das mussten wir lernen, damit es den Kindern gut gehen und sie ihren Weg finden konnten. Wenn man dagegen geht, rüttelt man am Schutzraum der Kinder, an dem einzigen Ort, an dem die sie sein können, wie sie sind. Das kann schnell gefährlich werden. Wir sind dankbar dafür und auch stolz darauf, dass unsere Kinder keine psychischen Folgen davongetragen haben. Am Ende ist es das, was wirklich wichtig ist.
Für das Kind und seine Belange zu kämpfen und es zu verteidigen, ist auch sehr wichtig. Vor anderen dafür einzustehen, dass es nicht in die Norm passt, nicht in der Spur läuft, ist für das Kind ein wichtiges Zeichen. Letzten Endes wird nur dann Bewegung in die Schulen und in die Gesellschaft kommen, wenn solche Leute, die nicht konform denken, sich nicht anpassen, sondern neue Ideen generieren, ebenfalls ihren Raum erhalten.
Was hast du in der Zusammenarbeit mit Schulen als hilfreich empfunden?
Das mag jetzt vielleicht etwas paradox klingen, aber es war extrem hilfreich, wenn wir in den Gesprächen mit Schulen beim Thema
Manche Lehrkräfte waren hilfreich, um die Situation für uns und unsere Kinder zu entlasten. Eine Lehrerin in der Grundschule ließ meinen Sohn zum Beispiel die Hausaufgaben selbst aussuchen. Es musste nicht das sein, was sie aufgab. Die Hauptsache war, dass er etwas machte. Das hat gut funktioniert.
Auf dem Gymnasium haben die Lehrkräfte wirklich viel in Bewegung gesetzt, damit sie unseren mittleren Sohn nicht sitzen lassen mussten. Sie haben ihn lange mit durchgeschleppt, da ihnen klar war, dass sich die Situation durch Sitzenbleiben nicht verbessern würde.
Was hättest du dir von der Schule anders gewünscht?
Ich hätte mir mehr Kreativität seitens der Lehrkräfte gewünscht, um meinen Kindern Wissen zu vermitteln. Ich verstehe natürlich, dass das schwierig ist. Meinen Kindern, aber bestimmt auch vielen anderen, wäre es entgegengekommen, wenn ein Thema in verschiedenen Fächern behandelt worden wäre. Also da wäre sicher unfassbar viel bei meinen Kindern freigesetzt worden. Wenn sie ab und zu etwas in dieser Hinsicht bekommen hätten, hätten sie auch mal wieder eine Zeit aushalten können, in der sowas vielleicht nicht geht. Das kann man auf Augenhöhe mit den Kindern besprechen. Dann müssen sie vielleicht nicht mitmachen, sondern können sich die Lerninhalte stattdessen über ein Referat erarbeiten. Am Ende muss man als Lehrkraft für all diese Sachen die Kinder, ihre
Ich habe ebenfalls bei manchen Lehrkräften vermisst, dass sie sich für ein gutes Klassenklima einsetzen und aktiv gegen Mobbing vorgehen. Leider war das nicht immer der Fall, was für unsere Kinder zum Teil sehr schlimm war.
Wie habt ihr es als Eltern geschafft, mit euren Kindern gut in Verbindung zu bleiben?
Besonders wichtig war, dass wir unseren Kindern immer vermittelt haben, dass wir ihnen glauben und sie ernst nehmen, in dem was sie sagen – auch wenn es noch so abstrus ist, was sie aus der Schule berichten. Meine Tochter konnte die Lage schon in der Grundschule immer gut einschätzen. Über ihre Klassenlehrerin sagte sie damals: „Die ist nett, macht aber keinen guten Unterricht.“ Das können besonders begabte Kinder oft gut differenzieren. Wichtig ist, dass wir unseren Kindern glauben und gemeinsam mit ihnen überlegen, was wir tun können.
Ich glaube, hochbegabte Menschen und speziell hochbegabte Kinder sind besonders gefährdet, Mobbing oder auch Missbrauch zu erfahren, wenn sie keinen haben, der ihnen glaubt und dem sie vertrauen können. Wenn sie sich nirgendwo an- und wahrgenommen fühlen und nur Druck von allen Seiten spüren, sich anzupassen, nehmen sie sich und ihre eigene Gefühlswelt irgendwann nicht mehr ernst. Wenn die eigenen Bedürfnisse konstant überfahren werden, Kindern aber vermittelt wird, dass das nun mal die Norm ist, dann kann das die Tür für Mobbing und Missbrauch öffnen. Deswegen ist es auch so wichtig, dass Eltern und Lehrkräfte hochbegabte Kinder erkennen, dass die Eltern gut aufgeklärt, dass sie gut betreut werden und mit ihren eigenen Themen klarkommen. Nur wenn die Eltern passend beraten werden, können wir auch den Kindern helfen.
Ich habe meinen Kindern immer viel Selbstständigkeit zugestanden. Ich habe ihnen viel zugetraut, aber vielleicht auch zugemutet. Ich habe schon früh Dinge eingefordert, auch wenn das manchmal extrem anstrengend war. Mir ging es nicht darum, meinen Kindern den Weg freizuräumen, damit alles nach Plan läuft und sie ohne Störungen durchs Leben kommen. Natürlich läuft im Leben mal was schief. Und dann ist man als Eltern da, tröstet, unterstützt und stärkt.
Was uns noch ausmacht: Wir umarmen uns sehr viel. Das erscheint mir sehr bedeutend, generell in der heutigen Zeit. Körperkontakt schafft Verbindung und bleibt für Kinder extrem wichtig – auch in der Pubertät.
Was würdest du Eltern raten, die gerade im Angesicht von Underachievement verzweifeln?
Ich würde ihnen raten, mutig zu sein. Haltet nicht an Dingen fest, die nicht funktionieren, aus der Hoffnung heraus, dass es schon wieder gut wird. Habt den Mut, zum Beispiel die Schule zu wechseln und was Neues zu probieren.
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