»Ich treffe auf Kinder und Jugendliche, die auf mich total einsam und verloren wirken, und im Grunde genommen lediglich (wieder-)gefunden werden möchten. Und es gibt dafür Wege.«
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Bei Underachievement geht es um das Phänomen der schulischen Minderleistung, von der dann gesprochen werden kann, wenn ein:e Schüler:in über einen gewissen Zeitraum (mindestens sechs Monate) nicht in der Lage ist, sein/ihr vorhandenes kognitives PotenzialDer Begriff Potenzial beschreibt die Voraussetzungen und Möglichkeiten von Kindern bzw. Jugendlichen auf einem bestimmten Gebiet (Hoch-)Leistungen zu erbringen. Mehr auszuschöpfen 1. Beim betroffenen Kind bzw. Jugendlichen aber auch in seinem Umfeld (Eltern, Geschwister, PeersPeers sind Kinder oder Jugendliche, die sich gleichrangig und aus subjektiver Bedeutung heraus einander zugehörig fühlen. Sie bilden eine sogenannte Peergroup. Unabhängig vom Alter der Kinder oder Jugendlichen können für das Zugehörigkeitsgefühl vor allem ein ähnlicher Entwicklungsstand und die Bewältigung von ähnlichen Entwicklungsaufgaben ausschlaggebend sein.
Kognitiv besonders begabte bzw. hochbegabte Kinder und Jugendliche können sich in ihrem Entwicklungsstand, sowie in ihren Interessen und Kompetenzen von Gleichaltrigen unterscheiden. Es kann auch vorkommen, dass sie Entwicklungsaufgaben zu einem anderen Zeitpunkt bewältigen als Gleichaltrige, weshalb sie sich eher anderen Peers oder Peergroups verbunden und zugehörig fühlen können. Mehr, Lehrkräfte und pädagogisches Personal etc.) entsteht im Laufe der dysfunktionalen Entwicklung ein enormer, unter anderem von dem Gefühl der Ohnmacht geprägter, anhaltender Leidensdruck.
Als Beratende im Kontext der Begabungsförderung (SIBUZ/Berlin) wird mir dabei auf allen beteiligten Ebenen häufig ein Versagensgefühl als Mensch, Tochter, Sohn, Schüler:in, Elternteil, Lehrer:in oder Schulleiter:in berichtet. Die Folgen äußern sich im weiteren entwicklungs- und entfaltungshinderlichen Verlauf bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen unterschiedlich. Sie reichen von Lustlosigkeit, Selbstentwertung, motivationaler Paralyse, Angst vor der eigenen Angst über Ziellosigkeit, Rückzug, sozialer Isolation und/oder aggressivem, (selbst-)zerstörerischen, depressiven Verhalten bis hin zur absoluten Schulverweigerung. Die Situation fühlt sich für sie häufig ausweglos an.
Einerseits begegnen mir in der Beratung diejenigen, die die Last der ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen Erwartungen an sie, nicht mehr (allein) tragen können oder möchten und sich auf die oben genannte Art und Weise vor dem tagtäglichen Versagen im und am System verstecken wollen. Andererseits treffe ich auf Kinder und Jugendliche, die auf mich total einsam und verloren wirken, und im Grunde genommen lediglich (wieder-)gefunden werden möchten. Und es gibt dafür Wege. Die bereits bestehenden gilt es zu erweitern und von den Stolpersteinen freizuräumen; die noch nicht vorhandenen, neu zu schaffen.
Die wesentlichen Schritte können dabei wie folgt aussehen:
2. Haltung: in einem Boot und an einem Strang
4. Analyse der Vorgeschichte und der Ursachen
5. Neudefinition der Ziele: Wo wollen wir gemeinsam hin?
6. Abgleich des Gehörten, Planung der konkreten Schritte und Wahrung der Kontinuität im Prozess
1. Du bist mir wichtig. Ich sehe Dich. Ich höre Dir zu. Ich bin für Dich da und ich bleibe. Wir werden es gemeinsam schaffen.
Mit dieser Haltung begegne ich in meiner Arbeit der Person aus dem System rund um das betroffene Kind, die für sich erkennt, dass die bereits unternommenen Schritte entweder nicht die richtigen, nicht ausreichend oder schlichtweg für den Moment erschöpft sind und die sich infolgedessen mit der Bitte um Unterstützung an mich wendet.
Gibt es (noch) Wege und Personen (und wenn ja, wo und welche), die den betroffenen Jugendlichen genau dieselbe Haltung entgegenbringen können 2? Wie stark ist das Gefühl der Ohnmacht, wie hoch ist das der Zuversicht bei den Beteiligten ausgeprägt? Was kann sie alle schrittweise immer ein bisschen mehr in die Richtung der Handlungsfähigkeit bringen? Und was kann bei der jeweiligen Problemlage erneut Orientierung geben und die Hoffnung wecken, dass es besser werden kann? Das sind unter anderem sind Fragen, die ich (auch mir) zu Beginn des Beratungsprozesses stelle.
2. Haltung: in einem Boot und an einem Strang
Da bezüglich der Entstehung und dem Aufrechterhalten von Underachievement in der aktuellen Literatur eine Reihe an personenbezogenen und kontextbezogenen (familiären, schulischen und außerschulischen) Ursachen aufgeführt werden (3, 4), legt der Weg zum schrittweisen „Aufweichen“ der Problemlage nahe, sich genau diese Stellschrauben gemeinsam anzuschauen.
Um den genauen Ursachen auf den Grund zu gehen, braucht es alle: Die Kinder und Jugendlichen, die Erziehungsberechtigten und das betreffende und ebenfalls betroffene pädagogische Personal der Schule. Es braucht sie, um nachhaltige Ideen zu entwickeln, und es braucht sie, um diese kontinuierlich umzusetzen. Im besten Fall sollte dieser Schritt nach Einbezug schulinterner Systeme von einer Außenperspektive begleitet werden. Die zuständigen schulpsychologischen und inklusionspädagogischen Beratungsstellen in dem jeweiligen Bundesland/der Region bieten zum Beispiel eine umfassende, individuelle und kostenfreie Beratung zum Thema Underachievement an. Gleichzeitig sind sie, je nach eigener Ressourcenlage, die Ansprechpartner:innen für schulinterne Fortbildungen, Supervision, CoachingMit Coaching können Lern- und Entwicklungsprozesse begleitet werden. Ziel des Coachings bei Hochbegabten ist die Entfaltung der Potenziale des Kindes bzw. Jugendlichen und die Entwicklung von Expertise und Leistungsexzellenz. Das Coaching findet häufig domänenspezifisch statt. Es beinhaltet den Aufbau von Kompetenzen bezüglich Lerninhalten und Lernprozessen, die Schaffung von Lerngelegenheiten und die Reflexion von Fortschritten durch effektives Feedback. Mehr sowie Gruppenangebote für alle Beteiligten. Es lohnt sich also in den meisten Fällen, sie in dem Helfernetz mit im Boot zu haben.
Gemeinsames Handeln ist auch deshalb wichtig, weil nicht selten keine Kommunikation mehr zwischen den Beteiligten stattfindet oder auch stattfinden kann. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich die Erfolge dann am schnellsten einstellen, wenn auf allen beteiligten Ebenen gleichzeitig angesetzt wird. Wie sieht die Beziehung zwischen dem jeweiligen Schüler beziehungsweise der Schülerin und den Lehrkräften aus? Ist die Beziehung zwischen Eltern und Schule beeinträchtigt und falls ja, wie stark? Was könnte die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Kommunikation wieder aufgenommen wird? Auf welche Art und Weise könnte sie initiiert werden? Wer müsste beim Planen eines (gemeinsamen) Gesprächs mitbedacht werden? Wann wäre der richtige Zeitpunkt dafür? Welche Informationsquellen (umfassende DiagnostikDiagnostik bezeichnet die Abklärung einer spezifischen Fragestellung. Dafür werden unterschiedliche Informationsquellen genutzt. Findet Diagnostik im Zusammenhang mit einer (vermuteten) Hochbegabung vor allem mit Blick auf eine angemessene Förderung in Kita und Schule statt, spricht man auch von (Früh-)Pädagogischer Diagnostik. Eine psychologische Diagnostik wird häufig unterstützend bei komplexeren Fragestellungen eingesetzt und kann die Abklärung des Intelligenzniveaus (IQ-Test) beinhalten. Mehr, schulinterne Lernerfolgskontrollen, Zeugnisse, Abgleich mit den anderen Fachlehrer:innen etc.) könnten einbezogen werden? Wie müsste der Kommunikationsfluss zwischen den Beteiligten aussehen und wie womöglich vorbereitet werden, um das Gespräch mit Blick auf den Schüler oder die Schülerin entfaltungsförderlich, vereinend und nicht (weiter) spaltend zu gestalten?
3. Identifizieren, Re-Aktivieren und gegebenenfalls Erweitern von (intrapersonellen und interpersonellen) Ressourcen
Ist eine solche Begegnung auf Augenhöhe vorbereitet und terminlich angesetzt, wäre ein wichtiges Ziel des Gesprächs, einen Überblick über die noch vorhandenen Ressourcen zu gewinnen. Kommt die Schülerin oder der Schüler überhaupt noch in die Schule? Wer und was genau sorgt dafür, dass das noch so ist? Wer packt momentan bei dem „Stolpersteine-aus-dem-Weg räumen“-Bild mit an? Was sind die Interessen, für die die Kinder brennen? Was sind ihre Lernmotivatoren? Welche Personen, die bereit und in der Lage sind, authentisch und mit sich selbst in Verbindung bestenfalls eine langfristige Rolle im Leben der Betroffenen zu spielen, gibt es? Gibt es innerschulische oder außerschulische Angebote im Nachmittagsbereich, die das Kind interessieren könnten (siehe auch Punkt 2)? Welche Fähigkeiten, die noch nicht oder nur in Ansätzen vorhanden sind, sollten ausgebaut werden 5? Was sind die Stärken der betroffenen Schüler:innen? All das darf identifiziert, benannt und vorerst anerkannt werden.
In diesem Zusammenhang ist es mit Blick auf die eigene Person, andere beteiligte Berater:innen, aber auch auf die Begleitpersonen empfehlenswert, kurz innezuhalten und in die Selbstreflexion zu gehen: Wie sieht mein eigenes Energielevel aus und wie die eigene Mitbetroffenheit? Ist es mir (noch) möglich, je nach Ausprägungsgrad der Schwierigkeiten und der eigenen Involviertheit, zwischen Mitleid und Mitgefühl zu unterscheiden? Bin ich in der Lage, den Prozess zu halten und falls nicht (mehr), was brauche ich, um es (wieder) zu können?
4. Analyse der Vorgeschichte und der Ursachen
Welche Schwierigkeiten werden genau gesehen und von wem seit wann beobachtet? Was ist die Meinung der betroffenen Schüler:innen selbst? Ist es schon mal anders gewesen? Was, wo, wie und wann genau war das? Und wer hat was dazu beigetragen, dass es anders war? Ist bereits eine kognitive HochbegabungHochbegabung bezeichnet das überdurchschnittliche geistige Potenzial eines Menschen, welches sich unter günstigen Umweltbedingungen und gezielter Anregung zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln kann. Hochbegabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – zu außergewöhnlicher Leistung. Sie stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Im Kita-Alter spricht man von „hoher Begabung“, da in diesem Alter eine Hochbegabung noch nicht zuverlässig festgestellt bzw. diagnostiziert werden kann. Mehr festgestellt worden? Und falls ja, in welchem Bereich und wann? In welchem Zusammenhang wurde die Diagnostik in die Wege geleitet und was, außer der intellektuellen BegabungBegabung bezeichnet intellektuelle Fähigkeits- bzw. Leistungspotenziale eines Menschen. Unter günstigen Bedingungen können sich Begabungen zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln.
Begabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – hoher Leistung. „Hochbegabung“ stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Von „hoher Begabung“ spricht man bei Kindern im Kita-Alter, bei denen eine Hochbegabung vermutet, aber noch nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Mehr selbst, wurde noch erfasst? Brauchen möglicherweise die Eltern noch etwas Zeit oder weitere Informationen, um die Ergebnisse und die Situation, wie sie ist, wahrhaben zu können und zu wollen? Welche Empfehlungen wurden ausgesprochen und welche umgesetzt? Was davon hat gut funktioniert und was weniger gut? Wer im schulischen Kontext weiß von der Begabung und wer, der gegebenenfalls Einfluss hätte, müsste noch von wem und auf welche Art und Weise informiert werden? Diese Schritte nachzuholen beziehungsweise diesen Fragen nachzugehen, wäre aus meiner Sicht ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Situation.
Davon ausgehend, dass die Zeit in der Schule ein persönliches Wirkungsfeld für die Kinder und Jugendlichen darstellt, wäre an dieser Stelle mitzudenken, dass eine anhaltende schulische Unterforderung gleichzeitig die Abwesenheit von Herausforderung bedeutet. Diese führt nicht selten langfristig zum Ausbleiben der Lernmotivation. Dabei sollte genau diese wieder angekurbelt werden. Wie geht es mir als Begleiter:in eines minderleistenden Jugendlichen? Welche Gefühle löst die verhärtete Situation, den/die demotivierte Schüler:in oder seine/ihre verzweifelten Erziehungsberechtigten zu begleiten, in mir aus? Beim Ausschließen bzw. ressourcenorientierten Sortieren der in solchen Fällen nicht selten auftretenden Verstrickungen können externe Beratungsstellen ebenfalls unterstützen.
Auf der Seite der intrapersonellen Faktoren des Schülers oder der Schülerin wäre es in dieser Phase hilfreich zu erfahren, wie es um seine/ihre Konzentrationsfähigkeit und um die selbstregulativen und motivationalen Fähigkeiten steht. Wie groß sind die Wissenslücken und wie das Lern- und Arbeitsverhalten 6? Wie leicht lässt er oder sie sich von den Misserfolgen entmutigen? Wie ist der Umgang mit den eigenen sowie fremden Erwartungen? Sind im familiären Kontext vergangene Ereignisse mitzudenken, die bei den Betroffenen das Gefühl der Überforderung oder des Kontrollverlustes ausgelöst haben könnten? Wie ist die Beziehung zu den Eltern, zwischen den Eltern und zwischen den Geschwistern? Wird das Kind oder der/die Jugendliche für sich als Person geliebt oder muss er/sie sich Zuneigung erst durch LeistungSind Kinder bzw. Jugendliche hochbegabt, beschreibt dies u. a. das Potenzial zu einer besonderen Leistung. Diese kann, muss aber nicht zwingend erbracht werden. Was genau unter Leistung verstanden wird, kann unterschiedlich sein. Es wird durch die Gesellschaft, die Kultur und durch Aushandlungen im sozialen Miteinander festgelegt. Außergewöhnliche Leistungen werden in Hochbegabungsmodellen meist multifaktoriell begründet. Mehr verdienen? All das – und im Zweifel noch mehr – gilt es zu erörtern, um im nächsten Schritt die Antwort auf die Frage zu finden, wo es hingehen soll.
5. Neudefinition der Ziele: Wo wollen wir gemeinsam hin?
In diesem Schritt werden realistische Ziele und machbare Lösungsideen gesucht. Die Erwartungen an die aktuellen Möglichkeiten anzupassen und erreichbare Ziele zu setzen, erhöht nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie umgesetzt werden wollen und können. Und auch das darf teilweise vorerst gelernt werden. Hat der oder die Betroffenen noch Ziele vor Augen oder ist dies schon gar nicht mehr möglich?
Woran wird jede einzelne beteiligte Person merken, dass der Prozess in eine entwicklungs- und entfaltungsfördernde Richtung voranschreitet? Auf welche Art und Weise wäre es denkbar, gemeinsam für die noch so kleinen Erfolge im Bereich des schulischen Lernens zu sorgen, ohne dabei die gesamte Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklungsaufgaben, die in der jeweiligen Altersstufe der Schülerin/des Schülers zu bewerkstelligen sind, außer Acht zu lassen? Gibt es in der Klasse andere Jugendliche, die im oberen Leistungsbereich sind? Gäbe es die Möglichkeit, sie bewusst öfter zusammenarbeiten zu lassen? Wie reagiert die Klasse auf die Neurodiversität von uns allen als Menschen? Ist es erlaubt zu leisten? Und darf jede:r sein, wie sie oder er ist, ohne befürchten zu müssen, ausgegrenzt zu werden?
Auch die eigenen Erwartungen gilt es hier zu reflektieren: Wünsche ich mir oder fordere ich Begeisterung? Welches Vorbild bin ich dabei selbst für die Schüler:innen? Vermittle ich als Lehrkraft im Unterricht Enthusiasmus und woran können meine Schüler:innen das erkennen? Stehe ich als Elternteil zu mir selbst und werde ich von meinem Kind als für meinen Beruf oder meine Interessen brennend wahrgenommen?
Underachievement vorzubeugen, bedeutet aus meiner Sicht, die Persönlichkeit ganzheitlich zu fördern. Die Kinder daher darin zu unterstützen, ihre sozialen Kompetenzen auszubauen, sie zu befähigen, eigene Körpersignale und Gefühle wahrzunehmen 7, sich selbst zu verstehen, vermeintliche Fehler und Irrwege als Helfer auf dem eigenen Weg anzunehmen, mit negativen Emotionen konstruktiv umzugehen und die Erfahrung zu machen, eine eigene Krise gemeinsam zu überwinden, leistet einen immensen Beitrag zu einer langfristigen, ganzheitlichen Entfaltung von Kindern und Jugendlichen.
6. Abgleich des Gehörten, Planung der konkreten Schritte und Wahrung der Kontinuität im Prozess
Abschließend wäre es wichtig, das Gehörte und das Verstandene abzugleichen und zusammenzufassen sowie konkrete Vereinbarungen zu treffen. Auf welche Art und Weise werden die Veränderungen gemessen? Wer trägt die Verantwortung wofür und wofür nicht? Auf welche der erarbeiteten Maßnahmen können sich alle kurz-, mittel- und langfristig einigen? Wie hoch ist die Zuversicht, dass die Maßnahmen umgesetzt werden können? Welche Entscheidungsträger:innen müssten mitunter noch ins Boot geholt werden? Welcher Zeitpunkt wäre für die Umsetzung am günstigsten? Über welche Kommunikationswege soll zukünftig die Zusammenarbeit gelebt werden? Wann findet eine weitere Zusammenkunft statt, um die Fortschritte zu sichten und zu sichern?
Abhängig davon, wie lange die herausfordernde Situation bereits anhält, wie schwerwiegend die intrapersonellen und interpersonellen Belastungen sind und wie viele Ressourcen im gesamten System vorhanden sind, ist es unter Umständen nicht leicht, die betroffenen Schüler:innen und mitunter auch sich selbst dazu zu motivieren, erneut das Vertrauen und den Mut zu fassen, einen neuen Versuch zu wagen. Etwas zu verändern, was jahrelang nach ähnlichem, dysfunktionalem Muster abläuft, erfordert Zeit und Nachsicht. Mit sich selbst und allen anderen beteiligten Akteur:innen. Manchmal ist die Zeit noch nicht reif genug, manchmal die Schwelle ein klein wenig zu hoch oder aber es fehlt noch jemand im Helfernetz. Dabei wäre es wichtig, uns daran zu erinnern, dass eine Wiederholung desselben eine weitere Möglichkeit bedeuten kann, noch besser zu verstehen, wie es nicht funktioniert. Und manchmal ist es immer noch hilfreicher am Platz stehen zu bleiben, als rückwärts zu gehen.
In solchen Situationen habe ich die Erfahrung machen dürfen, dass anzunehmen, was ist, und mich dabei zu fragen, was für den Moment der „liebevollste“ Weg für mich, die minderleistenden Schüler:innen und/oder die anderen Beteiligten wäre, wirkungsvoll Erleichterung verschaffen kann.
Im Kollektiv für Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit
Jeder kleinste Schritt in die richtige Richtung ist besser als keiner. Jeder Tag, der einen Unterschied zu dem bisher Erfahrenen macht, vermindert die Angst, erhöht die Selbstwirksamkeit, versetzt ins Handeln und regt schrittweise die intrinsische MotivationMotivation bezieht sich auf die Handlungsbereitschaft einer Person im Hinblick auf ein angestrebtes Handlungsergebnis. Eine hoch motivierte Person ist bereit, sich intensiv und ausdauernd mit etwas auseinanderzusetzen. Motivation beinhaltet mehrere Facetten, z. B. Emotionen, Interessen oder Zielorientierungen. Motivation ist ein Persönlichkeitsmerkmal, welches die Umsetzung von Begabung in Leistung wesentlich mitbeeinflusst. Niedrige Motivation spielt entsprechend eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Underachievement. Im Zusammenhang mit Hochbegabung ist beispielsweise die kognitive Motivation (Need for Cognition) von besonderer Bedeutung. Mehr an. Im Übrigen gilt das für alle an dem Prozess Beteiligten. Jede Begegnung auf Augenhöhe, die durch persönliche Kongruenz, zwischenmenschliche Authentizität und ein gleichzeitiges Gefühl des Orientierung-Gebens geprägt ist, kann eine Chance für Verbesserung bedeuten. Diese Erfahrungen helfen dabei, sich selbst, vorerst gegebenenfalls mit Unterstützung, wohlwollend anzunehmen und nicht mehr anders zu können, als sich zu entfalten und leisten zu wollen.
Es lässt sich kaum wegdiskutieren, dass das Bildungssystem und die daraus resultierenden Grenzen, denen die Betroffenen sowohl im schulischen als auch im außerschulischen und familiären Kontext ausgesetzt sind (z. B. durch Armut), in der Politik nach wie vor zu wenig Beachtung finden. Möglicherweise ist das der Grund dafür, weshalb ich in der Praxis die Erfahrung mache, dass dem Phänomen Underachievement effektiv nur im Kollektiv entgegengewirkt werden kann.
Lasst uns gemeinsam einen weiteren Schritt gehen, der einen Unterschied macht. Wie könnte dieser Schritt für Sie persönlich aussehen?
Glossar
BegabungBegabung bezeichnet intellektuelle Fähigkeits- bzw. Leistungspotenziale eines Menschen. Unter günstigen Bedingungen können sich Begabungen zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln.
Begabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – hoher Leistung. „Hochbegabung“ stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Von „hoher Begabung“ spricht man bei Kindern im Kita-Alter, bei denen eine Hochbegabung vermutet, aber noch nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Mehr
Coaching
Diagnostik
Hochbegabung
Leistung
Motivation
Peers
Potenzial
Quellen
1 Vgl. Arnold, D./Preckel, F. (2016): Hochbegabte Kinder klug begleiten. Ein Handbuch für Eltern. Weinheim, Basel: Beltz.
2 Vgl. Lemme, M./Bojarzin, R./Tepaße, F. (2011): Autorität durch Beziehung in der Schule. In: Systemische Praxis, Jg. 29(2), S. 62–72.
3 Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (2024): Underachievement verstehen, erkennen und beraten. Download hier verfügbar (Abrufdatum: 05.08.2024, 13:30 Uhr).
4 Preckel. F./Vock, M. (2021): Hochbegabung: Ein Lehrbuch zu Grundlagen, Diagnostik und Fördermöglichkeiten. 2. überarb. Auflage. Göttingen: Hogrefe.
5 Vgl. Furmann, B. (2013): Ich schaffs! Spielerisch und praktisch Lösungen mit Kindern finden – Das 15-Schritte-Programm für Eltern, Erzieher und Therapeuten. Heidelberg: Carl-Auer.
6 Koop, C. (2023): Vier Schlüssel, um Underachievement zu bewältigen. Frankfurt: Karg-Stiftung.
7 Vgl. Riedener Nussbaum, A./Storch, M. (2018): Ich packs! – Selbstmanagement für Jugendliche. Ein Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell. 4. Auflage. Bern: Hogrefe.
Unsere Autorin
Justyna Menke
ist Diplom-Psychologin und seit 2015 als Schulpsychologin am Schulpsychologischen und Inklusionspädagogischen Beratungs- und Unterstützungszentrum (SIBUZ) in Steglitz-Zehlendorf (Berlin) tätig. Darüber hinaus arbeitet sie als systemische Supervisorin, Coach (DGSv) und Therapeutin in eigener Praxis.