Irrtum oder Wahrheit?
Underachievement tritt bei hochbegabten Kindern sehr selten auf. Man braucht dem Phänomen deshalb nicht so viel Aufmerksamkeit schenken.
Irrtum
Underachievement betrifft rund 10 bis 15 % der Hochbegabten 1. Der persönliche und soziale Leidensdruck der Kinder ist hoch individuell. Wichtig ist zu schauen, ob Schüler:innen selbst Einschränkungen erleben. Denn Underachievement kann mit langfristigen psychischen Folgen für betroffene hochbegabte Kinder und Jugendliche einhergehen und sogar zu Schulangst oder Schulabsentismus führen. Dies wiederum kann Auswirkungen auf den gesamten Lebensverlauf haben.
Damit Kinder und Jugendliche aus der „Spirale der Enttäuschung“ 2 ausbrechen können, benötigen sie eine entsprechende pädagogische und oft auch psychologische Begleitung. Lehrkräfte und Beratungsfachkräfte sollten daher Kenntnis über das Phänomen Underachievement haben und über Strategien in der Begleitung von Underachievement verfügen.
Irrtum oder Wahrheit?
Jungen sind häufiger von Underachievement betroffen als Mädchen.
Irrtum
Underachievement wird zwar eher mit begabten Jungen als mit Mädchen in Verbindung gebracht, aber: Mädchen werden seltener als hochbegabt erkannt. Sie werden oft als fleißig und gewissenhaft wahrgenommen, während schnelle Lernerfolge bei Jungen eher auf ein besonderes TalentIm deutschsprachigen Raum wird der Begriff Talent häufig gleichbedeutend mit dem Begriff Begabung verwendet. Die englische Formulierung unterscheidet jedoch zwischen „gifted“ (Begabte) und „talent“ (Begabung). Im Gegensatz zu Begabung, die eindeutig als nicht direkt beobachtbares Potenzial gefasst ist, wird der Talentbegriff auch im Sinne bereits beobachtbarer Leistungen verwendet. Teils wird der Begriff Talent auch als Bezeichnung für spezifische Intelligenzbereiche genutzt. Mehr zurückgeführt werden 3. Eine erkannte BegabungBegabung bezeichnet intellektuelle Fähigkeits- bzw. Leistungspotenziale eines Menschen. Unter günstigen Bedingungen können sich Begabungen zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln.
Begabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – hoher Leistung. „Hochbegabung“ stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Von „hoher Begabung“ spricht man bei Kindern im Kita-Alter, bei denen eine Hochbegabung vermutet, aber noch nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Mehr zieht meistens höhere Erwartungen an die Schulleistungen nach sich. Bleibt der als begabt identifizierte Junge bei wachsenden Anforderungen unter seinen erwarteten Möglichkeiten, schauen Lehrkräfte und Eltern genauer hin. Schlechter werdende Schulleistungen aufseiten des (nicht als besonders begabt erkannten) Mädchens werden demgegenüber eher mit fehlendem Talent erklärt.
Auch stereotype ZuschreibungenStereotype sind Eigenschaften, die als „typische“ Eigenschaften für eine bestimmte Gruppe von Menschen (z. B. Menschen gleicher sozialer Herkunft oder gleichen Geschlechts) angesehen werden. Diese Eigenschaften werden dann auf alle Menschen dieser Gruppe übertragen. Stereotype sind jedoch bezogen auf die Gruppe häufig falsch und treffen noch seltener auf einzelne Personen dieser Gruppe zu, wirken also vorverurteilend. Aufgrund von Stereotypisierung werden von hochbegabten Kindern und Jugendlichen Verhaltensweisen oder Leistungen erwartet, die ihnen nur aufgrund ihrer Hochbegabung – oft fälschlicherweise – zugeschrieben werden. Mehr wie der Glaubenssatz „Nette Mädchen heben sich nicht ab“ halten sich hartnäckig und beeinflussen Mädchen darin, Entscheidungen zu treffen, die sich ungünstig auf ihre LeistungSind Kinder bzw. Jugendliche hochbegabt, beschreibt dies u. a. das Potenzial zu einer besonderen Leistung. Diese kann, muss aber nicht zwingend erbracht werden. Was genau unter Leistung verstanden wird, kann unterschiedlich sein. Es wird durch die Gesellschaft, die Kultur und durch Aushandlungen im sozialen Miteinander festgelegt. Außergewöhnliche Leistungen werden in Hochbegabungsmodellen meist multifaktoriell begründet. Mehr und ihre Talententfaltung auswirken 4. Underachievement trifft Mädchen und Jungen gleichermaßen.
Irrtum oder Wahrheit?
Wenn ich nichts von der Hochbegabung weiß,
kann ich Underachievement doch auch gar nicht erkennen.
Wahrheit
Das Erkennen von Underachievement ist schwierig; verschiedene Faktoren sind dabei zu beachten: Hochbegabte Kinder können Underachievement entwickeln, um die eigenen Leistungen an die der Gruppe/Klasse anzupassen und so weniger aufzufallen. Herrscht insgesamt kein positives Leistungsklima in der Gruppe/Klasse, kann dies hochbegabte Schüler:innen dazu veranlassen, keine hohe Lern- und Leistungsmotivation zu zeigen. Sie spielen ihre eigene MotivationMotivation bezieht sich auf die Handlungsbereitschaft einer Person im Hinblick auf ein angestrebtes Handlungsergebnis. Eine hoch motivierte Person ist bereit, sich intensiv und ausdauernd mit etwas auseinanderzusetzen. Motivation beinhaltet mehrere Facetten, z. B. Emotionen, Interessen oder Zielorientierungen. Motivation ist ein Persönlichkeitsmerkmal, welches die Umsetzung von Begabung in Leistung wesentlich mitbeeinflusst. Niedrige Motivation spielt entsprechend eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Underachievement. Im Zusammenhang mit Hochbegabung ist beispielsweise die kognitive Motivation (Need for Cognition) von besonderer Bedeutung. Mehr zugunsten einer Passung in die soziale Gemeinschaft herunter, obwohl sie eigentlich eine hohe Leistungsmotivation haben. Negative Erfahrungen hochbegabter Schüler:innen können ebenfalls dazu beitragen, dass die (kognitive) Leistungsfähigkeit eingeschränkt wird oder sich Ängste entwickeln. Auch ist es möglich, dass Kinder aufgrund von Unterforderung und Langeweile besonders herausforderndes Verhalten zeigen oder sich etwa (in sich selbst) zurückziehen. Bei all diesen Ausdrucksformen ist der Umkehrschluss auf eine HochbegabungHochbegabung bezeichnet das überdurchschnittliche geistige Potenzial eines Menschen, welches sich unter günstigen Umweltbedingungen und gezielter Anregung zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln kann. Hochbegabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – zu außergewöhnlicher Leistung. Sie stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Im Kita-Alter spricht man von „hoher Begabung“, da in diesem Alter eine Hochbegabung noch nicht zuverlässig festgestellt bzw. diagnostiziert werden kann. Mehr oft nicht naheliegend. Es bedarf daher im Einzelfall eines genauen Blicks auf das Kind, seine PotenzialeDer Begriff Potenzial beschreibt die Voraussetzungen und Möglichkeiten von Kindern bzw. Jugendlichen auf einem bestimmten Gebiet (Hoch-)Leistungen zu erbringen. Mehr und Leistungen in unterschiedlichen (Lern-)Situationen 5.
Irrtum oder Wahrheit?
Wer schlechte schulische Leistungen erbringt, kann gar nicht hochbegabt sein.
Irrtum
Eine besondere intellektuelle Begabung ist zunächst ein Potenzial und sagt wenig darüber aus, wie gut die Leistungen sind, die ein:e Schüler:in erbringt. Begabung und Leistung sind also nicht gleichzusetzen.
Um ein Potenzial auch auszuschöpfen, braucht es noch mehr, zum Beispiel Motivation, soziale Unterstützung, eine förderliche und leistungsfreundliche Umgebung und ein angemessenes Maß an Herausforderung. Passen die einzelnen Faktoren schlecht zusammen, kann es also durchaus sein, dass auch Hochbegabte keine guten Noten erbringen. Wichtig bei Underachievement ist, dass die Kinder und Jugendlichen ihr Potenzial aus verschiedenen Gründen nicht abrufen können. Dieses Ursachengeflecht ist komplex und es gilt, dieses genauer unter die Lupe zu nehmen 6.
Irrtum oder Wahrheit?
Von Underachievement betroffene Schüler:innen zweifeln oft an ihren Fähigkeiten und auch an ihrer besonderen Begabung.
Wahrheit
Eine Ursache von Underachievement kann ein negatives SelbstkonzeptDas Selbstkonzept beschreibt, wie sich Kinder und Jugendliche individuell wahrnehmen und welche Fähigkeiten sie sich jeweils selbst zuschreiben. Es bildet sich auf der Grundlage der Erfahrungen, die jedes Kind und jeder Jugendliche mit dem Umfeld macht, und den erlebten Reaktionen auf das eigene Verhalten, die eigenen Leistungen und die eigene Persönlichkeit. Mehr sein. „Wenn ich so schlau wäre, würde mir das doch alles leichtfallen“: Hochbegabte Kinder machen oft zunächst die Erfahrung, dass ihnen die Unterrichtsinhalte leichtfallen, sie gut mitkommen und daher nicht lernen zu lernen. Wenn sie dann doch auch irgendwann an ihre Grenzen kommen – etwa in der weiterführenden Schule – kann es passieren, dass sie an ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit zweifeln.
Wenn hochbegabte Kinder wenig Zutrauen in die eigene Leistung haben und diese externen Faktoren zuschreiben (z. B. „Ich war nicht besonders gut. Die Aufgaben waren alle viel zu leicht.“, „Ich hatte an dem Tag einfach Glück und deshalb eine gute Note.“), setzen sich diese Überzeugungen als Glaubenssätze fest („In Wirklichkeit kann ich das eigentlich gar nicht.“) und müssen mühsam mit neuen positiven Erfahrungen überschrieben werden 7.
Irrtum oder Wahrheit?
Von Underachievement betroffene Schüler:innen haben oft keine (passenden) Lernstrategien entwickelt.
Wahrheit
Hochbegabte Schüler:innen haben oft – gerade in der Grundschule – keine oder kaum LernstrategienLernmethodische Kompetenzen umfassen jene Kompetenzen, die für den Erwerb von Wissen notwendig sind. Hierzu gehören zum Beispiel Kenntnisse, wie Wissen strukturiert werden kann, welche Lernstrategien es gibt und wie man sie anwendet, wie Texte strukturiert gelesen und geschrieben werden usw. Auch kognitiv hochbegabte Kinder und Jugendliche benötigen lernmethodische Kompetenzen, um sich komplexe Inhalte anzueignen und neue Wissensgebiete zu erfassen. Mehr ausgebildet, weil ihnen das Lernen und das Aneignen von Inhalten immer leichtgefallen ist. In der weiterführenden Schule können die fehlenden Lernstrategien irgendwann zum Knackpunkt werden.
Den von Underachievement betroffenen Schüler:innen kann eine Lernbegleitung oder ein Lerncoaching helfen, um das Lernen zu lernen und sich die notwendigen Methoden anzueignen. In individuellen Gesprächen wird dann geschaut, was ihnen helfen kann und was passt 8, 9.
Quellen
1 Rost, D. H. (2017): Underachievement aus psychologischer und pädagogischer Sicht: Wie viele hochbegabte Underachiever gibt es tatsächlich? In: News & Science, 15. Salzburg: ÖZBF Österreichisches Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung, S. 8–9.
2 Wieczerkowski, W.; Prado, T. M. (1993): Spiral of Disappointment: Decline in achievement among gifted adolescents. In: European Journal of High Ability, 4 (2). London: Routledge, Taylor & Francis, S. 126–141.
3 Winstantley, C. (2009): Understanding and Overcoming Underachievement in Women and Girls – A Reprise. In: Montgomery, D. (Hrsg.) (2009): Able, Gifted and Talented Underachievers. Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell, S. 185–199.
4 Koop, C. (2022): Nette Mädchen fallen nicht auf – Die drei wichtigsten Gründe für Underachievement bei Mädchen. Frankfurt: Karg-Stiftung.
5 Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (2024): Underachievement verstehen, erkennen und beraten. Download hier verfügbar (Abrufdatum: 09.09.2024, 13:30 Uhr).
6 Heller, K. A./Perleth, C. (2007): Talentförderung und Hochbegabtenberatung in Deutschland. In: Heller, K. A./Ziegler, A. (Hrsg.) (2007): Begabt sein in Deutschland. Berlin, Münster: LIT, S. 143.
7 Siegle, D./McCoach, D. B./Roberts, A. (2017): Why I believe I achieve determines whether I achieve. In: High Ability Studies, 28(1), S. 59–72. Unter: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13598139.2017.1302873?cookieSet=1 (Abrufdatum: 09.09.2024; 13:30 Uhr)
8 Baumann, N./Gebker, S./Kuhl, J. (2010): Hochbegabung und Selbststeuerung: Ein Schlüssel für die Umsetzung von Begabung in Leistung. In: Preckel, F./Schneider, W./Holling, H. (Hrsg.): Diagnostik von Hochbegabung (Tests und Trends: Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik, Bd. 8). Göttingen: Hogrefe, S. 141–167.
9 Breyel, S. (2023): Lerncoaching hilft: Underachievement vorbeugen und begleiten. Frankfurt: Karg-Stiftung.