Drei Gesichter von Underachievement
Underachievement kann nicht nur verschiedenste Ursachen haben, sondern auch ganz unterschiedlich in Erscheinung treten. Wie komplex das Geflecht Underachievement oft ist, zeigen die drei folgenden Fallbeispiele (Namen und Fotos sind fiktiv).
Robert (12 Jahre)
Roberts HochbegabungHochbegabung bezeichnet das überdurchschnittliche geistige Potenzial eines Menschen, welches sich unter günstigen Umweltbedingungen und gezielter Anregung zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln kann. Hochbegabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – zu außergewöhnlicher Leistung. Sie stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Im Kita-Alter spricht man von „hoher Begabung“, da in diesem Alter eine Hochbegabung noch nicht zuverlässig festgestellt bzw. diagnostiziert werden kann. Mehr wurde bereits in der Grundschule erkannt. Zusätzlich liegt ein Verdacht auf eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (AD(H)SDie Abkürzung steht für Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Störung. Sie bezeichnet eine neurobiologische Abweichung, die sich vor allem durch eine Störung der Aufmerksamkeit und Konzentration, eine hohe Impulsivität und gegebenenfalls eine starke motorische Unruhe (Hyperaktivität) kennzeichnet. Schätzungsweise zwei bis fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von AD(H)S betroffen, wobei die Störung bis zu vier Mal häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert wird.
AD(H)S schließt eine Hochbegabung nicht aus, sondern kann in seltenen Fällen mit ihr gemeinsam vorliegen. Diese Kinder werden als „Twice Exceptional“, also doppelt außergewöhnlich, bezeichnet. Da sich die Symptome überlagern können, ist eine professionell durchgeführte psychologische Diagnostik wichtig. Mehr) vor, der noch nicht abschließend abgeklärt ist. Fakt ist, dass Robert Schwierigkeiten hat, sich im Unterricht zu fokussieren und bei der Sache zu bleiben. Er lässt sich leicht von Geräuschen und Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung ablenken. Robert hat es dadurch im Unterricht nicht leicht. Er ist schnell vom Unterrichtsgeschehen abgelenkt und kann so nicht zeigen, was in ihm steckt. Darüber ist er sehr unglücklich und zunehmend frustriert.
Elin (14 Jahre)
Elins Hochbegabung blieb in den ersten Schuljahren unerkannt. Erst in der weiterführenden Schule riet eine aufmerksame Lehrerin der Familie, Elin auf eine mögliche Hochbegabung testen zu lassen. Der TestEin Intelligenztest (auch: IQ-Test) erfasst die intellektuelle Leistungsfähigkeit entsprechend der dem IQ-Test zugrundeliegenden Intelligenztheorie. In Abhängigkeit von der theoretischen Fundierung und den gewählten Aufgaben werden in unterschiedlichen Tests verschiedene Bereiche der Intelligenz berücksichtigt und akzentuiert. Bei der Durchführung eines Intelligenztests ist es daher wichtig zu wissen, welche Teilfähigkeiten (z. B. figurale Fähigkeiten, logisches Schlussfolgern) der spezielle Test erfasst und inwieweit er bildungs- oder sprachabhängig ist. Für die objektive, verlässliche und valide Diagnostik von Hochbegabung sind Intelligenztests von zentraler Bedeutung. Sie sind in der Lage, nicht beobachtbare Fähigkeitspotenziale zu erfassen: Durch Intelligenztests können vorhandene Fähigkeiten entdeckt werden, auch wenn keine entsprechenden Leistungen gezeigt werden. Mehr wies einen IQ von über 130 nach. Sie besucht nun den Hochbegabtenzweig eines Gymnasiums. Dort setzt sich Elin selbst immer stärker unter Druck und entwickelt Prüfungsangst. Dadurch kann sie ihr PotenzialDer Begriff Potenzial beschreibt die Voraussetzungen und Möglichkeiten von Kindern bzw. Jugendlichen auf einem bestimmten Gebiet (Hoch-)Leistungen zu erbringen. Mehr in Prüfungssituationen nicht abrufen; ihre Noten verschlechtern sich. Langsam schleichen sich SelbstzweifelDas Imposter-Phänomen (auch Hochstapler-Selbstkonzept) bezieht sich auf hochleistende Menschen, die trotz ihres objektiv nachgewiesenen Erfolgs dauerhaft unter Selbstzweifeln leiden sowie unter der Angst, als „Hochstapler:innen“ entlarvt zu werden. Imposter-Gefühle können bereits bei 10- bis 12-Jährigen auftreten. Auch bei hochbegabten Personen kann das Imposter-Phänomen vorkommen. Die in der Begabtenförderung unterrepräsentierten Gruppen können davon stärker betroffen sein. Dabei spielen gesellschaftliche Stereotype und (mehrfache) Diskriminierungen eine wichtige Rolle. Mehr ein und ihr Selbstvertrauen leidet.
Ida (17 Jahre)
Und dann ist da noch Ida – ein fröhliches, schüchternes Mädchen, dessen überdurchschnittlich hohe kognitive Leistungsfähigkeit bereits in der Grundschule festgestellt wurde. Innerhalb der ersten Wochen nach der Einschulung bringt sie sich problemlos das Lesen bei und durchläuft auch die weitere Grundschulzeit ohne Schwierigkeiten. Später auf dem Gymnasium schafft Ida es dann aber häufig nicht, sich morgens für die Schule zu motivieren. Ihr ist im Unterricht oft langweilig, darum bleibt sie der Schule lieber fern. Irgendwann hat sie große Lücken im Lernstoff, und schafft es nicht, diese wieder aufzuholen. Ihre Versetzung ist gefährdet. Ida kommt mit ihren bisherigen LernstrategienLernmethodische Kompetenzen umfassen jene Kompetenzen, die für den Erwerb von Wissen notwendig sind. Hierzu gehören zum Beispiel Kenntnisse, wie Wissen strukturiert werden kann, welche Lernstrategien es gibt und wie man sie anwendet, wie Texte strukturiert gelesen und geschrieben werden usw. Auch kognitiv hochbegabte Kinder und Jugendliche benötigen lernmethodische Kompetenzen, um sich komplexe Inhalte anzueignen und neue Wissensgebiete zu erfassen. Mehr nicht mehr weiter. Das lässt sie stark an ihrem SelbstkonzeptDas Selbstkonzept beschreibt, wie sich Kinder und Jugendliche individuell wahrnehmen und welche Fähigkeiten sie sich jeweils selbst zuschreiben. Es bildet sich auf der Grundlage der Erfahrungen, die jedes Kind und jeder Jugendliche mit dem Umfeld macht, und den erlebten Reaktionen auf das eigene Verhalten, die eigenen Leistungen und die eigene Persönlichkeit. Mehr zweifeln: „Wenn ich doch hochbegabt bin, müsste es mir doch eigentlich leichtfallen.“ Ihr gelingt es nicht, diese Gedankenspirale zu durchbrechen und die Hilfsangebote der Lehrkräfte anzunehmen.
Wann wird aus einem Zustand ein Problem?
Nicht das volle Potenzial abrufen können – na und? Zentraler Bestandteil der meisten Definitionen von Underachievement bei Hochbegabten ist die „signifikante Diskrepanz zwischen der zu erwartenden Leistung und der tatsächlichen Leistung“ 1. Hier richtet sich der Blick vor allem auf die von außen beobachtbare Differenz mit der erbrachten LeistungSind Kinder bzw. Jugendliche hochbegabt, beschreibt dies u. a. das Potenzial zu einer besonderen Leistung. Diese kann, muss aber nicht zwingend erbracht werden. Was genau unter Leistung verstanden wird, kann unterschiedlich sein. Es wird durch die Gesellschaft, die Kultur und durch Aushandlungen im sozialen Miteinander festgelegt. Außergewöhnliche Leistungen werden in Hochbegabungsmodellen meist multifaktoriell begründet. Mehr im Zentrum.
Bei den geschilderten Fallbeispielen wird jedoch noch eine andere Perspektive deutlich, nämlich die des Leidensdrucks, der von den betroffenen Schüler:innen gespürt werden kann, aber eben nicht muss 2. Diese Perspektive findet sich in der Definition von Stedtnitz wieder: „Minderleistung ist, wenn ich nicht erreichen kann oder konnte, was ich möchte oder wollte“ 3. Ist das Kind also zufrieden mit den erreichten Leistungen, besteht eigentlich kein Handlungsdruck. Häufig zeichnen sich hochbegabte Kinder jedoch dadurch aus, dass sie leisten wollen. Sie besitzen eine hohe intrinsische MotivationMotivation bezieht sich auf die Handlungsbereitschaft einer Person im Hinblick auf ein angestrebtes Handlungsergebnis. Eine hoch motivierte Person ist bereit, sich intensiv und ausdauernd mit etwas auseinanderzusetzen. Motivation beinhaltet mehrere Facetten, z. B. Emotionen, Interessen oder Zielorientierungen. Motivation ist ein Persönlichkeitsmerkmal, welches die Umsetzung von Begabung in Leistung wesentlich mitbeeinflusst. Niedrige Motivation spielt entsprechend eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Underachievement. Im Zusammenhang mit Hochbegabung ist beispielsweise die kognitive Motivation (Need for Cognition) von besonderer Bedeutung. Mehr und Anstrengungsbereitschaft und leiden darunter, wenn sie ihr Potenzial nicht zum Ausdruck bringen können – wie die oben beschriebenen Fallbeispiele zeigen.
Von Ursachen und Folgen
Schauen wir also einmal genauer hin, welches Ursachengeflecht hinter dem Phänomen Underachievement stehen kann. Das können auf der einen Seite personale Faktoren sein: das (akademische) Selbstkonzept, die Motivation, der Grad der Anstrengungsbereitschaft und Frustrationstoleranz, die Form der Stressresistenz sowie möglicherweise weitere hinzukommende Herausforderungen wie eine Autismus-Spektrum-StörungDie Autismus-Spektrum-Störung zählt zu den neurologischen Entwicklungsstörungen. Autismus zeigt sich in einer Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen Funktionsbereichen. Zu den Symptomen zählen Einschränkungen in der sozialen Interaktion. Zugleich zeichnet sich das Verhalten durch anhaltende, sich wiederholende Verhaltensweisen oder sehr ungewöhnliche, einseitige Interessen aus. Die Auffälligkeiten eines Kindes bzw. Jugendlichen sind bereits früh vorhanden, können sich aber auch im Laufe der Entwicklung in ihrer Ausprägung verändern. Hohe bis sehr hohe kognitive Fähigkeiten sind bei einer Autismus-Spektrum-Störung möglich.
Wichtig ist eine genaue und professionelle Diagnose, insbesondere auch, weil einzelne auf Autismus zutreffende Symptome auch in anderen Zusammenhängen im Kindes- und Jugendalter auftreten können. Mehr, AD(H)S oder Sprachschwierigkeiten. Auf der anderen Seite können auch Faktoren, die in der Umwelt liegen, Einfluss nehmen: die schulische und familiäre LernumgebungDer Begriff Lernarrangement beschreibt Lernumgebungen bzw. Lerngelegenheiten, die didaktisch und methodisch einen Möglichkeitsrahmen bieten, in dem vielfältige Wege des selbstgesteuerten Lernens stattfinden können. Lernarrangements sollten lebensnah und partizipativ konzipiert sein, z. B. im Rahmen von Lernwerkstätten oder als Arbeit im Schulgarten. Zudem orientieren sie sich am jeweiligen Potenzial und Lernfortschritt der Lernenden, indem sie Differenzierungen in der Aufgabenbearbeitung oder unterschiedliche Möglichkeiten der Ergebnispräsentation bieten. Vor diesem Hintergrund stellen didaktisch entsprechend durchdachte Lernarrangements eine gute Basis für eine gelingende Begabungsförderung dar. Mehr, das Lernklima, die familiäre soziale und sozioökonomische SituationMit dem Begriff „Sozioökonomischer Hintergrund“ werden soziale und wirtschaftliche Aspekte zusammengefasst, die sich auf das Leben einer Person auswirken können. Dazu gehören zum Beispiel Bildungsstand der Eltern, finanzielles Vermögen, Staatsbürgerschaft oder Geschwisterstatus. Der Zugang zu und die erfolgreiche Teilhabe an Bildungsangeboten hängen in Deutschland besonders eng mit dem sozioökonomischen Hintergrund zusammen: Diesbezüglich günstige Bedingungen bringen größere Chancen auf gelingende Bildungswege mit sich, ungünstige Bedingungen hingegen verringern entsprechende Chancen. Aus diesem Grund spielt es, besonders auch vor dem Hintergrund eines begabungsgerechten Bildungssystems, beim Entdecken und Fördern hoher Begabungen eine Rolle, ob Kinder und Jugendliche einen eher niedrigen oder höheren sozioökonomischen Hintergrund aufweisen. Ein wichtiges Ziel wirkungsvoller Begabungsförderung ist es deshalb, Bildungsangebote so zu gestalten, dass besonders begabte Personen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status unterstützt werden. Mehr.
Personale und umweltliche Faktoren wirken oft wechselseitig, bestärken sich oder gleichen sich in ihrem Einfluss auf die Umwandlung von BegabungBegabung bezeichnet intellektuelle Fähigkeits- bzw. Leistungspotenziale eines Menschen. Unter günstigen Bedingungen können sich Begabungen zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln.
Begabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – hoher Leistung. „Hochbegabung“ stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Von „hoher Begabung“ spricht man bei Kindern im Kita-Alter, bei denen eine Hochbegabung vermutet, aber noch nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Mehr in Leistung aus. Wichtig ist: Underachievement ist nie nur ein Problem aufseiten der betroffenen Schüler:innen. Es ist ein Problem der Nicht-Passung, das nur überwunden werden kann, wenn auch die Umwelt und hier insbesondere die Lernumgebung an die Bedarfe der minderleistenden Schüler:innen angepasst wird.
Underachievement entwickelt sich oft über längere Zeit. Studien zeigen, dass es sich bei Hochbegabten manchmal schon in der Kita und in der Grundschule manifestieren kann. Wenn besonders begabte Kinder in ihren Potenzialen, Erwartungen und Bedürfnissen an kognitiver Herausforderung nicht gesehen und diese somit auch nicht bedient werden, kann die sogenannte „Spirale der Enttäuschung“ 4 in Gang gesetzt werden (siehe Grafik weiter unten). Diese entsteht aus den Diskrepanzen zwischen den Bedürfnissen der Kinder und dem Angebot, das sie in ihrem Umfeld vorfinden:
- Diskrepanz zwischen Erwartungen und Lehrplan:
Das lernbegierige Kita- oder Vorschulkind erhofft sich häufig, dass mit dem Schuleintritt endlich Herausforderungen auf es warten, auf die es bislang oft vertröstet wurde („Das lernst du in der Schule!“). Diese Erwartungen werden jedoch oft enttäuscht, wenn die Schule durch ihr Konzept, ihre Strukturen oder auch die Kompetenzen und Ressourcen der Lehrkräfte nicht in der Lage ist, den Erwartungen und Bedürfnissen besonders begabter Kinder gerecht zu werden. - Diskrepanz zwischen Lernfähigkeit, Lerngeschwindigkeit und Lehrplan:
Im Klassenzimmer unterscheiden sich die Schüler:innen in ihrem Vorwissen und ihren Fähigkeiten teilweise stark. Nicht selten werden besonders begabte Kinder dazu angehalten, sich an die langsameren Mitschüler:innen anzupassen. Das bedeutet für sie oft, sich wiederholt mit Lernstoff auseinandersetzen zu müssen, den sie sich bereits angeeignet haben. - Diskrepanz zwischen Anstrengungsbereitschaft und Handlungsbereitschaft:
Das Bedürfnis nach und die Motivation für neue Herausforderungen fällt bei besonders begabten Kindern oft dem übergeordneten Ziel zum Opfer, den Wissenserwerb und Lernerfolg aller Schüler:innen einer Klasse zu maximieren. Dauerhaft senkt sich als Folge die Bereitschaft der Schüler:innen, Aufgaben über den vorgegebenen Lehrplan hinaus zu bearbeiten, auch wenn diese sie kognitiv herausfordern. Solche Extras verlieren in Bezug auf die Leistungsbewertung im Schulsystem häufig ihren Reiz, werden als lästig empfunden und deshalb abgelehnt.
Die Spirale der Enttäuschung ist also das Ergebnis einer langfristigen Vernachlässigung elementarer kognitiver Bedürfnisse von besonders begabten Kindern. Die betroffenen Kinder reagieren darauf ganz unterschiedlich – manche sehr laut und andere sehr leise: Wenn das Kind sozialen Anpassungsdruck verspürt, kann es sein, dass es sich gar nicht mehr zeigt, sich (emotional und sozial) zurückzieht und sein Selbstwertgefühl darunter leidet. Eine mangelnde Selbstregulation (auch in Form von aggressivem Verhalten), die Entwicklung von Ängsten (soziale Ängste oder Prüfungsangst) oder andere soziale Auffälligkeiten können ebenfalls Folgen sein. Auch Schulangst und -absentismus sind nicht ausgeschlossen, wenn das Kind das Gefühl hat, nicht in das soziale System Schule zu passen.
Eine häufige Folge ist, dass das Kind seine intrinsische Motivation für die Schule und schulische Aufgaben verliert. In der Konsequenz zeigen die Kinder nicht die Leistungen, die sie eigentlich erbringen können, und verweigern sich im Unterricht eventuell sogar komplett 5. Ihre Noten verschlechtern sich. Dies kann wiederum dazu führen, dass Lehrkräfte zu der Überzeugung kommen, dass das Kind den Lernstoff seiner Klassenstufe (kognitiv) nicht bewältigen kann. Dadurch beschränken sich auch weiterhin die Möglichkeiten für das Kind, in ein förderlicheres Umfeld zu gelangen (z. B. durch die Teilnahme an Förderprogrammen oder bei der Wahl der weiterführenden Schule) 6.
Werden Kinder im Unterricht auffällig, wird leider selten die langfristige Vernachlässigung ihrer kognitiven Bedürfnisse dafür als Ursache erkannt, sondern oft zunächst eine sozial-emotionale Verhaltens- und Anpassungsstörung vermutet. Einer Unterforderung wird in DiagnostikenDiagnostik bezeichnet die Abklärung einer spezifischen Fragestellung. Dafür werden unterschiedliche Informationsquellen genutzt. Findet Diagnostik im Zusammenhang mit einer (vermuteten) Hochbegabung vor allem mit Blick auf eine angemessene Förderung in Kita und Schule statt, spricht man auch von (Früh-)Pädagogischer Diagnostik. Eine psychologische Diagnostik wird häufig unterstützend bei komplexeren Fragestellungen eingesetzt und kann die Abklärung des Intelligenzniveaus (IQ-Test) beinhalten. Mehr in vielen Fällen gar nicht erst nachgegangen, was dazu führt, dass ein wichtiges Puzzlestück in der Ursachenforschung fehlt. Dieses ist jedoch maßgeblich, um die Situation der Schüler:innen verstehen und verbessern zu können.
Underachievement kann sich über die Schulzeit hinaus auf den gesamten Lebensverlauf auswirken: zum einen durch langfristige psychische und soziale Folgen und zum anderen durch eine starke Beschränkung in der Berufs- und Studienwahl aufgrund fehlender Qualifikationen. Denn nicht selten verlassen von Underachievement betroffene Schüler:innen die Schule ohne oder mit einem niedrigen Schulabschluss. Vor allem aber nimmt dauerhaftes Underachievement das Selbstwertgefühl oft so sehr in Mitleidenschaft, dass die Betroffenen sich kaum noch etwas zutrauen und aus Angst vor weiteren Misserfolgen und Rückschlägen vor Herausforderungen zurückschrecken.
Betroffene Schüler:innen begleiten
Underachievement ist zwar in seiner Entstehung und Erscheinung komplex, aber doch nicht unmöglich zu überwinden. Werfen wir einmal den Blick zurück auf die Fallbeispiele vom Anfang. Was hat Robert, Elin und Ida geholfen, sich wieder erfolgreich zu fühlen und das Vertrauen in ihr Können zu steigern?
Bei Robert war der passende Integrationshelfer ein richtiger Gewinn. Robert kann sich mit dessen Hilfe im Unterricht besser fokussieren und länger an den Aufgaben dranbleiben. Gemeinsam arbeiten sie daran, eine gute Mischung aus Konzentrations- und Bewegungsphasen in den Schulalltag zu integrieren. Wenn es mit der Konzentration nicht mehr geht, kann Robert selbstständig entscheiden, den Unterricht zu verlassen, um sich kurz an der frischen Luft zu bewegen. So lässt sich viel Frust und Misserfolg vermeiden und seine Motivation wird aufrechterhalten. Hilfreich wäre zudem die Klärung des A(D)HS-Verdachts im Sinne einer zweifachen Außergewöhnlichkeit„Twice Exceptional“ (wörtl.: zweifach außergewöhnlich, oft abgekürzt als 2e) bezeichnet hochbegabte Kinder und Jugendliche, die neben ihrer Hochbegabung in einem weiteren Aspekt Besonderheiten aufweisen, z. B. eine Teilleistungsschwäche oder Verhaltensauffälligkeiten. Mehr (auch als Twice Exceptional bezeichnet), um herauszufinden, ob die geringe Aufmerksamkeits- und Konzentrationsspanne auch hierauf beruht. Dies ist wichtig, um für Robert passende Maßnahmen ergreifen zu können.
Elin hat es geholfen, Strategien für den Umgang mit Druck, die sie beim Schwimmtraining und bei Wettbewerben erlernt hat, auf die Schule zu übertragen. Die Lehrkräfte und Elins Eltern haben sich auf Wege verständigt, um den Druck rauszunehmen, den Elin spürt. Durch den gemeinsamen Fokus auf das, was gut läuft, fällt es ihr nun in Prüfungssituationen schon leichter. Die Noten haben sich verbessert und Elin fasst langsam wieder Vertrauen in sich und ihr Können.
Ida geht inzwischen wieder regelmäßig zur Schule. Den Wendepunkt gab es bei ihr durch eine frei gestaltbare ProjektphaseDie Projektarbeit ist eine (früh-)pädagogische Methode, bei der alle Kinder gemeinsam in einer Gruppe, institutions- und altersübergreifend – aber trotzdem individuell – gefördert werden können. Dabei erarbeiten sich alle Kinder einer Gruppe gemeinsam ein Thema, jedes seinen Begabungen entsprechend. Das selbstgesteuerte Lernen wird gefördert, weil die Kinder bei der Auswahl der Themen, Ziele und Umsetzungswege mitgestalten. So können sich auch (hoch-)begabte Kinder mit einem größeren Vorwissen oder höheren Kompetenzen gut einbringen. Mehr. Die einzige Bedingung in dieser Zeit war es, jeden Tag zur Schule zu kommen und am Projekt zu arbeiten. Dies setzte eine enorme Motivation frei. Ida konnte ohne Druck üben, sich zu organisierenBeim selbstgesteuerten Lernen übernehmen Kinder und Jugendliche die Verantwortung für ihr Lernen in hohem Maße selbst. Sie strukturieren ihren Lernprozess und entscheiden, wann sie welche Inhalte auf welche Art und Weise lernen und vertiefen.
Das selbstgesteuerte Lernen stellt für Kinder und Jugendliche mit einer hohen kognitiven Begabung eine gute Möglichkeit dar, Inhalte in ihrem eigenen Tempo zu bearbeiten. Dabei sollten sie von den Lehrer:innen beraten und begleitet werden. Mehr und gewann Selbstvertrauen. Außerdem fasste sie irgendwann ausreichend Vertrauen zu den Lehrkräften, um sich auf ein Lerncoaching einlassen zu können. Im CoachingMit Coaching können Lern- und Entwicklungsprozesse begleitet werden. Ziel des Coachings bei Hochbegabten ist die Entfaltung der Potenziale des Kindes bzw. Jugendlichen und die Entwicklung von Expertise und Leistungsexzellenz. Das Coaching findet häufig domänenspezifisch statt. Es beinhaltet den Aufbau von Kompetenzen bezüglich Lerninhalten und Lernprozessen, die Schaffung von Lerngelegenheiten und die Reflexion von Fortschritten durch effektives Feedback. Mehr wurde Ida dabei unterstützt, sich passende Lernstrategien anzueignen und Stoff nachzuholen. Die Versetzung in die nächste Stufe, für die sich das Kollegium aus pädagogischen Gründen entschieden hat, stärkte zusätzlich das Vertrauen zu ihren Lehrkräften.
Prävention sticht Intervention
Im allergünstigsten Fall gelingt es, die Entstehung von Underachievement von vornherein zu vermeiden und eine „Spirale der Potenzialentwicklung“ anzustoßen. Die Lernmotivation im Unterricht aufrechtzuerhalten, kann durch angemessen herausfordernde und komplexe Aufgaben oder Projekte, die ein hohes Maß an Autonomie zulassen, gelingen. Die Vermittlung von Lernstrategien in Kombination mit Arbeitsformen, die metakognitive Kompetenzen fördern und die Reflexion, wann und wie diese passend eingesetzt werden können, sind eine wichtige Basis für erfolgreiches Lernen. Konstruktives und vor allem auch positives Feedback stärkt das Selbstvertrauen von Schüler:innen. Regelmäßige Feedbackgespräche können helfen, Underachievement frühzeitig zu erkennen und ihm präventiv zu begegnen 7.
Glossar
Imposter-PhänomenDas Imposter-Phänomen (auch Hochstapler-Selbstkonzept) bezieht sich auf hochleistende Menschen, die trotz ihres objektiv nachgewiesenen Erfolgs dauerhaft unter Selbstzweifeln leiden sowie unter der Angst, als „Hochstapler:innen“ entlarvt zu werden. Imposter-Gefühle können bereits bei 10- bis 12-Jährigen auftreten. Auch bei hochbegabten Personen kann das Imposter-Phänomen vorkommen. Die in der Begabtenförderung unterrepräsentierten Gruppen können davon stärker betroffen sein. Dabei spielen gesellschaftliche Stereotype und (mehrfache) Diskriminierungen eine wichtige Rolle. Mehr
Intelligenztest
LernarrangementDer Begriff Lernarrangement beschreibt Lernumgebungen bzw. Lerngelegenheiten, die didaktisch und methodisch einen Möglichkeitsrahmen bieten, in dem vielfältige Wege des selbstgesteuerten Lernens stattfinden können. Lernarrangements sollten lebensnah und partizipativ konzipiert sein, z. B. im Rahmen von Lernwerkstätten oder als Arbeit im Schulgarten. Zudem orientieren sie sich am jeweiligen Potenzial und Lernfortschritt der Lernenden, indem sie Differenzierungen in der Aufgabenbearbeitung oder unterschiedliche Möglichkeiten der Ergebnispräsentation bieten. Vor diesem Hintergrund stellen didaktisch entsprechend durchdachte Lernarrangements eine gute Basis für eine gelingende Begabungsförderung dar. Mehr
Lernmethodische KompetenzenLernmethodische Kompetenzen umfassen jene Kompetenzen, die für den Erwerb von Wissen notwendig sind. Hierzu gehören zum Beispiel Kenntnisse, wie Wissen strukturiert werden kann, welche Lernstrategien es gibt und wie man sie anwendet, wie Texte strukturiert gelesen und geschrieben werden usw. Auch kognitiv hochbegabte Kinder und Jugendliche benötigen lernmethodische Kompetenzen, um sich komplexe Inhalte anzueignen und neue Wissensgebiete zu erfassen. Mehr
Motivation
Projektarbeit
Selbstgesteuertes Lernen
Selbstkonzept
Sozioökonomischer HintergrundMit dem Begriff „Sozioökonomischer Hintergrund“ werden soziale und wirtschaftliche Aspekte zusammengefasst, die sich auf das Leben einer Person auswirken können. Dazu gehören zum Beispiel Bildungsstand der Eltern, finanzielles Vermögen, Staatsbürgerschaft oder Geschwisterstatus. Der Zugang zu und die erfolgreiche Teilhabe an Bildungsangeboten hängen in Deutschland besonders eng mit dem sozioökonomischen Hintergrund zusammen: Diesbezüglich günstige Bedingungen bringen größere Chancen auf gelingende Bildungswege mit sich, ungünstige Bedingungen hingegen verringern entsprechende Chancen. Aus diesem Grund spielt es, besonders auch vor dem Hintergrund eines begabungsgerechten Bildungssystems, beim Entdecken und Fördern hoher Begabungen eine Rolle, ob Kinder und Jugendliche einen eher niedrigen oder höheren sozioökonomischen Hintergrund aufweisen. Ein wichtiges Ziel wirkungsvoller Begabungsförderung ist es deshalb, Bildungsangebote so zu gestalten, dass besonders begabte Personen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status unterstützt werden. Mehr
Twice Exceptional
Quellen
1 Reis, S. M./McCoach, D. B. (2002): Underachievement in gifted and talented students with special needs. In: Exceptionality, 10, S. 113–125. https://doi.org/10.1207/S15327035EX1002_5, S. 115.
2 Greiten, S. (2019): Hochbegabte Underachiever – Impulse zur Schul-und Unterrichtsentwicklung. Befunde aus Fallstudien. In: Kiso, C./Lagies, J. (Hrsg): Begabungsgerechtigkeit. Perspektiven auf stärkenorientierte Schulgestaltung in Zeiten von Inklusion. Wiesbaden: Springer VS, S. 161–178.
3 Stedtnitz, U. (2008): Mythos Begabung. Bern: Verlag Hans Huber, S. 36.
4 Wieczerkowski, W./Prado, T. M. (1993): Spiral of Disappointment: Decline in achievement among gifted adolescents. In: European Journal of High Ability, 4(2), S. 126–141.
5 Fong, C. J./Patall, E. A. et al. (2023): Academic underachievement and self-conceptual, motivational, and self-regulatory factors: A meta-analytic review of 80 Years of research. In: Educational Research Review, Vol. 41, 100566.
6 Siegle, D./McCoach, D. B. (2018): Underachievement and the gifted child. In: Pfeiffer, S.I./Shaunessy-Dedrick, E./Foley-Nicpon, M. (2018): APA handbook of giftedness and talent. Washington, DC: American Psychological Association, S. 559–573.
7 Warnecke, S./Hauke, R. (2020): Stärkung der Bildungsgerechtigkeit bei Underachievement, Migration und Hochbegabung. Drei Beispiele aus der Förderpraxis. In: Fischer, C./Fischer-Ontrup, C. et al. (Hrsg.): Begabungsförderung, Leistungsentwicklung, Bildungsgerechtigkeit – für alle! Beiträge aus der Begabungsforschung. Münster, New York: Waxmann, S. 241–252.
Mehr Informationen
- Pohlmeier, L./Seddig, N. (2022): Was Langeweile in der Kita mit Underachievement in der Schule zu tun hat. Frankfurt: Karg-Stiftung.
- Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg (2024): Underachievement verstehen, erkennen und beraten. Download hier verfügbar (Abrufdatum: 05.08.2024, 13:30 Uhr).
- Film zum Thema:
Regie: Annette Pilawa | Kamera/Schnitt: Marcus Brodt | Ton: Felix Schettler | Sprecher: Max Dörken
Redaktion: Dr. Miriam Lotze (Projektleitung Schule, Karg-Stiftung) & Anja Gjaldbaek (Projektleitung Fachmedien, Karg-Stiftung)
Unsere Autorinnen
Dr. Wiebke Evers
ist Psychologin (M.Sc.) und arbeitet als Projektleitung im Team Beratung der Karg-Stiftung. In ihren Projekten geht es um die Intervention und Prävention von Underachievement, die Stärkung von Selbstregulation und Motivation für die Entwicklung individueller Potenziale, den Umgang mit Leistungsdruck sowie den Ausbau von digitalen Beratungsangeboten.
Dr. Miriam Lotze
ist Erziehungswissenschaftlerin (M.A.) und leitet das Programm Schule in der Karg-Stiftung. Die Schwerpunkte ihrer Projektarbeit bilden die Themen Begabungsgerechtigkeit und begabungsförderliche Übergangsgestaltung. Zudem setzt sie sich mit der Förderung von Begabungen und Potenzialentwicklung sowie Faktoren für die Entstehung von Underachievement auseinander.
Bildnachweise
Foto Robert: Armin Staudt/photocase.de
Foto Elin: istockphoto.com/qkonstudio
Foto Ida: istockphoto.com/g-stockstudio
Grafik Spirale der Enttäuschung: eigene Darstellung nach Wieczerkowski, W./Prado, T. M. 1993