Schülerinnen und Schüler sitzen in einem Klassenraum. Eine Lehrerin betrachtet ein Heft.
Group of university students attending lecture on campus with teacher helping in studies.

»Das Drehtürmodell schafft ein Umfeld, in dem Schüler:innen ihre Interessen vertiefen, ihre Begabungen weiterentwickeln und anspruchsvolle Projekte bearbeiten können. Gleichzeitig bietet die Rückkehr in den regulären Unterricht Raum für soziale Integration und Zusammenarbeit.«

Die Geschichte des Drehtürmodells ist eine Geschichte über „to ‚fall in love‘ with something and develop bigger, richer, more accurate images of the future“ (auf Deutsch: sich in etwas „verlieben“, Leidenschaft für etwas entwickeln und sich ein größeres, reicheres, lebendigeres und präziseres Bild der Zukunft machen) – wie der amerikanische Psychologe und Kreativitätsforscher E. Paul Torrance es im Vorwort des Grundlagenwerks „The Revolving Door Identification Model“ von den Psycholog:innen Joseph S. Renzulli, Sally M. Reis und Linda H. Smith 1 beschreibt. Im Kern geht es darum, dass Schüler:innen ihren Interessen folgen, in individualisierten Lernsituationen ihre vielfältigen Begabungen entfalten und durch projektbasiertes Arbeiten wesentliche Kompetenzen entwickeln, im Zusammenwirken mit intellektuellen Fähigkeiten, Kreativität und Motivation.

Historische Entwicklung und Anliegen des Drehtürmodells

Das Drehtürmodell zählt im deutschsprachigen Raum zu den bekanntesten Konzepten der Begabungsförderung 2 und ist historisch betrachtet, samt theoretischer Fundierung und schulpraktischer Einbettung, ein Meilenstein. Seine theoretische und praktische Grundlage wurde in den 1970er-Jahren von Renzulli entwickelt und dann von Renzulli, Reis und Smith 1 im Revolving Door Identification Model systematisiert und an die Schulpraxis angebunden. Es markiert die kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Begabungsförderungskonzepten, die bis dahin auf IQ-Tests und kognitive Fähigkeiten als Identifikationen für Begabungspotenziale fokussiert waren. Diese eingeschränkte Sichtweise führte dazu, dass vielfältige Begabungen von Schüler:innen übersehen wurden.

Renzulli hingegen erkannte und propagierte, dass Begabung nicht allein durch kognitive Fähigkeiten bestimmt wird, sondern ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren darstellt 3. Als Folge seiner Überlegungen entwickelte er ein dynamisches Begabungsmodell das Three-Ring-Concept (Drei-Ringe-Modell, siehe Grafik weiter unten). Dieses beschreibt Begabung als eine Kombination von überdurchschnittlichen Fähigkeiten, Kreativität und Aufgabenverpflichtung. Besondere Begabungen werden im Zusammenspiel erkannt: Lernende fallen durch überdurchschnittliche intellektuelle, kreative und praktische Fähigkeiten auf. Kreativität beschreibt die Fähigkeit, innovative Ideen zu entwickeln, neue Wege zu beschreiten und originelle Problemlösungen zu finden. Die Komponente der Aufgabenverpflichtung (Task Commitment) beschreibt die Motivation, die Ausdauer und den Willen, Herausforderungen anzunehmen, Ziele zu verfolgen und letztlich komplexe Aufgaben intensiv zu bearbeiten. Nach dem Three-Ring-Concept ist Begabung somit nicht statisch, sondern situativ und abhängig vom Umfeld, von Anreizen und individueller Motivation.

Das Drei-Ringe-Modell, Abbildung nach 4.

Dem Drei-Ringe-Modell zufolge bedarf es zur Begabungsentwicklung geeigneter Lernsituationen, die im regulären Schulsystem über den Unterricht hinausgehen sollten, von Renzulli als Maßnahmen zum „Enrichment“ (Anreicherung) beschrieben. Um dies im Schulalltag umzusetzen, resultierte die Idee der „Drehtür“ (Revolving Door). Diese dient hierbei als Metapher für den temporären Ausstieg von Schüler:innen aus dem regulären Unterricht, um an speziellen Enrichment-Maßnahmen teilzunehmen. Je nach Interessen und Fähigkeiten der Teilnehmenden variieren die Angebote und fördern nicht nur kognitive Fähigkeiten, sondern auch Kreativität und intrinsische Motivation. Das Drehtürmodell kann im Schulalltag flexibel eingesetzt werden, setzt auf situative Betrachtung von Begabungen und entspricht dem Grundsatz, dass sich Begabungen dynamisch entwickeln und sich in unterschiedlichen Kontexten und Lebensphasen zeigen können.

Enrichment als zentraler Baustein

Ein zentraler Bestandteil des Drehtürmodells ist das Konzept des Enrichments, das eine Erweiterung des schulischen Curriculums darstellt. Renzulli und Reis (5, 46 f.) unterteilen Enrichment in drei Typen: Im Typ-I-Enrichment werden Schüler:innen mit neuen Themen und Ideen konfrontiert, um Interessen und Neugier zu wecken. Beispiele sind Exkursionen, Workshops oder Gastvorträge, Internetrecherchen, Auseinandersetzungen mit diversen Medien, und/oder kleinere Präsentationen. Dieser Typ richtet sich an eine breite Zielgruppe und sollte vielen Schüler:innen offenstehen.

Idealerweise entdecken diese dabei Themen, mit denen sie sich vertieft im Typ-II-Enrichment auseinandersetzen möchten. In diesem Typ steht die Entwicklung von Fähigkeiten im Problemlösen sowie im kreativen und kritischen Denken sowie der Umgang mit dem persönlichen Erleben in interessengeleiteten Lernsituationen und eigenen Projekten im Fokus. Dazu lernen Schüler:innen spezielle Methoden und Strategien, um Probleme zu lösen, Informationen zu recherchieren oder Projekte zu planen und diese später auch schriftlich, mündlich oder visuell zu kommunizieren.

Der Typ-III-Enrichment schließlich ermöglicht es, auf einem hohen Niveau an eigenen Projekten zu komplexen Problemstellungen zu arbeiten. Dazu werden Interessen in realitätsnahen Arbeiten vertieft, verschiedene Lösungswege erprobt und Ergebnisse in unterschiedlichen Formen präsentiert und diskutiert. Auf diese Weise sollen die Schüler:innen ihre Kreativität weiterentwickeln und Selbstvertrauen aufbauen. Zu betonen ist, dass Projekte im Typ II und III nicht zwingend an wissenschaftsorientiertem Arbeiten ausgerichtet sein müssen, sondern jegliche Projekte umgesetzt werden können: Vom Bau einer Maschine über die Umsetzung einer kleinen Firmenidee bis hin zur Erstellung eines Kunstwerkes – alles ist denkbar.

Bedeutung des Drehtürmodells für Schüler:innen

Das Modell eröffnet Schüler:innen Möglichkeiten zur individuellen Förderung, ohne sie sozial zu isolieren. Es schafft ein Umfeld, in dem sie ihre Interessen vertiefen, ihre Begabungen weiterentwickeln und anspruchsvolle Projekte bearbeiten können. Gleichzeitig bietet die Rückkehr in den regulären Unterricht Raum für soziale Integration und Zusammenarbeit. Auch für Underachiever:innen, die ihr Potenzial im schulischen Kontext nicht zeigen (können), bietet das Drehtürmodell besondere Chancen. Die flexible Struktur und der leistungsfreie Raum können sie dabei unterstützen, ihre Interessen zu identifizieren und sie für Arbeitsprozesse, die sie selbst gestalten können, zu motivieren. Dazu eignet sich vor allem das Typ-III-Enrichment, welches selbstgesteuertes Arbeiten fördert. Gerade dieser Typ hat sich als effektiv erwiesen, um die Lernfreude und Leistungsbereitschaft von Underachiever:innen zu steigern 6.

Chancen für die Schulentwicklung und Anforderungen an Lehrkräfte

Die Implementierung des Drehtürmodells in der Schule erfordert eine Verknüpfung mit der Schulentwicklung. Es bedarf Organisationsstrukturen, die den Schüler:innen Flexibilität zum Verlassen des Unterrichts und Gelegenheiten zur Arbeit an Projekten bieten. Idealerweise entwickeln Schulen Strukturen, die zunächst vielen Schüler:innen den Zugang zum Typ I ermöglichen, unabhängig von ihren schulischen Leistungen, aber mit Berücksichtigung weiterer Indizien, die auf Potenziale schließen lassen. Das Drehtürmodell als Identification-Model lenkt damit den Blick auf Interessen und andere Kriterien als in der Schule erreichte Noten. Erst mit den Typen II und III stehen Angebote für spezifischere Begabungsförderung zur Verfügung.

Lehrkräfte spielen bei der Initiierung, Implementierung und grundsätzlich in der Begabungsförderung auf Basis des Drehtürmodells eine zentrale Rolle. Sie benötigen entsprechende Fortbildungen, um die theoretischen Kontexte und Prinzipien des Modells sowie die Schulentwicklungsprozesse erfolgreich umsetzen zu können. Für Lehrkräfte sind Kompetenzen in der Diagnostik von Begabungen, der Planung von Enrichment-Angeboten und der Begleitung von Schüler:innenprojekten notwendig. Zudem müssen sie in der Lage sein, eine offene Lernkultur zu fördern, die Differenzierung erlaubt und Schüler:innen zur Selbstständigkeit anregt.

Weiterentwicklungen des Drehtürmodells

In den USA wurde das Drehtürmodell zum Schoolwide Enrichment Model (SEM) weiterentwickelt 5. Das SEM erweitert die Prinzipien des Drehtürmodells auf die gesamte Schule und betont die Förderung aller Schüler:innen entsprechend ihren Stärken und Interessen. Es stellt sicher, dass mit den Enrichment-Typen individuelle Lernangebote systematisch in den Schulalltag eingebettet werden.

In Deutschland ist das SEM bisher nicht verbreitet. Stattdessen entwickelten Schulen verschiedene Drehtürmodell-Typen, die das Verlassens des regulären Unterrichts und Arbeit an eigenen Themen und Projekten über Enrichment an anderen Lernorten wie Universitäten und Betrieben bis hin zu doppeltem Sprachenlernen ermöglichen 2.

Die neueste Entwicklung ist die Digitale Drehtür“. Der Zusammenhang zwischen dem Drehtürmodell nach Renzulli et al. 1 und der Digitalen Drehtür zeigt, wie moderne Technologie die Kernidee der flexiblen Förderung mit den Chancen der Digitalisierung verbindet, neue Möglichkeiten für die individuelle Lernentwicklung schafft und einen Beitrag für Bildungsgerechtigkeit leistet.

Die Digitale Drehtür setzt die Grundidee der flexibilisierten individuellen Förderung von Potenzialen und Begabungen im digitalen Zeitalter um und erweitert sie um die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der digitalen Lernwelt.

Quellen

1 Renzulli, J. S./Reis, S. M./Smith, L. H. (1981): The Revolving Door Identification Model. Mansfield Center, CT: Creative Learning Press.

2 Greiten, S. (2016): Das Drehtürmodell in der schulischen Begabtenförderung. Studienergebnisse und Praxiseinblicke aus Nordrhein-Westfalen. In: Karg Hefte – Beiträge zur Begabtenförderung und Begabungsforschung, 9, S. 30–45. URL: https://www.fachportal-hochbegabung.de/pdf/karg-heft-09 (Abrufdatum: 20.05.2025).

3 Renzulli, J. S. (1978): What makes giftedness? Reexamining a definition. In: Phi Delta Kappan, 60, S. 180–184.

4 Renzulli, J. S./Reis, S. M./Stedtnitz, U. (2001): Das Schulische Enrichment Modell SEM: Begabungsförderung ohne Elitebildung. Aarau: Sauerländer.

5 Renzulli, J. S./Reis, S. M. (2014): The Schoolwide Enrichment Model: A How-to Guide for Talent Development. 3. Auflage. Waco, TX: Prufrock Press.

6 Reis, S. M./McCoach, D. B. (2000): The underachievement of gifted students: What do we know and where do we go? In: Gifted Child Quarterly, 44(3), S. 152–170.

Unsere Autorin

Prof. Dr. Silvia Greiten
ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik und Pädagogik der Sekundarstufe I an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Schul- und Unterrichtsentwicklung im Kontext von Heterogenität, Begabungsförderung, Individuelle Förderung, Inklusion und Professionalisierung von Lehrkräften, Qualitative Forschung und Mixed-Methods.

Zum Weiterlesen

Fachartikel von Joseph S. Renzulli

Im Karg Fachportal Hochbegabung finden Sie einen umfangreichen Originalartikel von Joseph S. Renzulli aus dem International Journal for Talent Development and Creativity in deutscher Übersetzung. Unter dem Titel „Welches pädagogische Konzept liegt (zumindest idealerweise) Programmen der schulischen Begabungsförderung zugrunde?“ zeigt er, welche Vorteile es haben kann, wenn sich Schulen für mehr Innovation und kreative Prozesse öffnen.