»Die Kultur des Lernens orientiert sich stets an den Interessen der Kinder sowie ihrer intrinsischen (Lern-)Motivation, sodass ihre Begabungspotenziale Einzug in die Gestaltung des Kita-Alltags halten.«
Frühes Service Learning ermöglicht inklusive Teilhabe
Das Frühe Service Learning oder übersetzt „Frühes Lernen durch Engagement“ 1 ist eine alltagsintegrierte Methode der frühen Begabungsförderung in der Kita. Sie kann in besonderer Weise dabei unterstützen, auf die individuellen Interessen von Kindern einzugehen und ihnen Raum zum Forschen, Experimentieren und intensiven Lernen zu geben. Denn „Kinder wollen lernen – und sie lernen in der Kita nicht in strukturierten Einheiten wie in der Schule, sondern sie lernen überwiegend praktisch, informell und empathisch.“ 2 Damit ist das Frühe Service Learning auch eine Möglichkeit, um individuelle Förderangebote alltagsintegriert in der Kita umzusetzen.
Oft haben Kinder bereits in verschiedenen Themen ein umfangreiches Expert:innenwissen, das sie gerne an andere Menschen weitergeben wollen. Insbesondere Kinder mit hohen kognitiven BegabungenBegabung bezeichnet intellektuelle Fähigkeits- bzw. Leistungspotenziale eines Menschen. Unter günstigen Bedingungen können sich Begabungen zu herausragenden Leistungen oder großem Kenntnis- und Wissensreichtum entwickeln.
Begabung bezeichnet damit die Möglichkeit – nicht das Vorliegen – hoher Leistung. „Hochbegabung“ stellt eine besonders hochgradige Ausprägung von „Begabung“ dar. Von „hoher Begabung“ spricht man bei Kindern im Kita-Alter, bei denen eine Hochbegabung vermutet, aber noch nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Mehr verfügen häufig über einen großen Wissensschatz in verschiedenen Themen, welchen sie gerne aktiv in den Kita-Alltag einbringen möchten. Indem es Kindern durch das Frühe Service Learning ermöglicht wird, die Rolle eines „Experten“ oder einer „Expertin“ in einem bestimmten Themengebiet einzunehmen, werden die kindliche Selbstsicherheit, das Selbstbewusstsein und die Empathie gefördert.
Von diesem Wissen können alle Kinder profitieren. Denn das Lernen findet in einer geschützten Gemeinschaft statt, was unter anderem Demokratie- und Sozialkompetenzen stärkt 3. So liegt dem Frühen Service Learning auch ein inklusiver Gedanke zugrunde: Jedes Kind wird durch einen ressourcenorientierten Blick in seinen Stärken gesehen und bei der Entfaltung seines PotenzialsDer Begriff Potenzial beschreibt die Voraussetzungen und Möglichkeiten von Kindern bzw. Jugendlichen auf einem bestimmten Gebiet (Hoch-)Leistungen zu erbringen. Mehr unterstützt. Auch die Teilhabe an den Lernangeboten anderer Kinder ist interessengeleitet und selbstbestimmt.
Wissensschätze wahrnehmen und entfalten
Durch das Frühe Service Learning kann es beispielsweise ermöglicht werden, dass Kinder selbst einen Morgenkreis leiten oder kleine Workshops betreuen. Dazu bereiten die Kinder in größtenteils selbstgesteuerten Lernprozessen die Inhalte für andere Kinder vor und werden dabei von den pädagogischen Fachkräften in einem individuellen Maß unterstützt. Dabei erwerben die Kinder neben fachlichen Inhalten auch lernmethodische KompetenzenLernmethodische Kompetenzen umfassen jene Kompetenzen, die für den Erwerb von Wissen notwendig sind. Hierzu gehören zum Beispiel Kenntnisse, wie Wissen strukturiert werden kann, welche Lernstrategien es gibt und wie man sie anwendet, wie Texte strukturiert gelesen und geschrieben werden usw. Auch kognitiv hochbegabte Kinder und Jugendliche benötigen lernmethodische Kompetenzen, um sich komplexe Inhalte anzueignen und neue Wissensgebiete zu erfassen. Mehr, da sie sich damit auseinandersetzen, wie sie beispielsweise einen Morgenkreis oder Workshop gestalten möchten. Sie eignen sich neues Wissen an, vertiefen bereits vorhandenes Wissen und geben es an andere weiter. Grundvoraussetzung für das Gelingen des Frühen Service Learning ist, dass die Kinder sich die Durchführung der Angebote selbst zutrauen und sich dazu bereit fühlen.
Die Ideen und Wissensschätze, die die Kinder in die Angebote des Frühen Service Learning einbringen möchten, sind sehr vielfältig.
Hört unser Fallbeispiel zum Thema »Dinosaurier« an.
Sprecher: Max Dörken
Sprecherin: Lisa Pohlmeier
Kinder: Milla & Stella
Neben dem Dinosaurier-Thema aus unserem Fallbeispiel können weitere Interessengebiete wie beispielsweise Unterwasserwelt, Tiere oder Wald spannend sein. Da die Themen stark variieren können und jedes Kind individuell nach seiner MotivationMotivation bezieht sich auf die Handlungsbereitschaft einer Person im Hinblick auf ein angestrebtes Handlungsergebnis. Eine hoch motivierte Person ist bereit, sich intensiv und ausdauernd mit etwas auseinanderzusetzen. Motivation beinhaltet mehrere Facetten, z. B. Emotionen, Interessen oder Zielorientierungen. Motivation ist ein Persönlichkeitsmerkmal, welches die Umsetzung von Begabung in Leistung wesentlich mitbeeinflusst. Niedrige Motivation spielt entsprechend eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Underachievement. Im Zusammenhang mit Hochbegabung ist beispielsweise die kognitive Motivation (Need for Cognition) von besonderer Bedeutung. Mehr und seinen Möglichkeiten partizipiert, unterscheidet sich jeder Lernanlass für das Frühe Service Learning situativ.
Individuelle Lerngelegenheiten durch das Frühe Service Learning
Neben dem Leiten von Morgenkreisen gibt es zahlreiche andere Möglichkeiten, Frühes Service Learning zu ermöglichen. Beispielsweise können Experimente geplant und durchgeführt oder Bücher sowie Brettspiele vorgestellt werden. Auch eine Kombination aus mehreren Medien und Durchführungsvarianten ist denkbar. Hier sind der Fantasie und Kreativität der Kinder keine Grenzen gesetzt.
Die Leitidee des Frühen Service Learning ist das frühe Lernen durch Engagement: Die beiden Leitgedanken „Service“ und „Learning“ müssen immer parallel gedacht werden. Das Ziel ist, dass durch die Übernahme von Verantwortung – wie zum Beispiel das Durchführen und Leiten des Morgenkreises – kognitive Lernprozesse angestoßen werden. Bei unserem Fallbeispiel wurde konkret durch die Idee, im Morgenkreis von Dinosauriern zu berichten, Engagement erwirkt. Die Kinder haben sich engagiert und sich tiefergehend mit dem Thema Dinosaurier beschäftigt. Dadurch wurde zunächst ihr persönlicher Lernprozess angeregt, da neues Wissen erworben und bereits vorhandenes Wissen ergänzt wurde. Darüber hinaus haben sie beim Berichten über ihr Dinosaurier-Wissen die kognitiven Prozesse der zuhörenden Kinder gefördert. So haben alle etwas Neues gelernt: Das Kind selbst, andere Kinder ebenso wie pädagogische Fachkräfte, Eltern oder andere Bezugspersonen – je nach Öffnungsgrad des Angebots.
Durch das Einbringen eigener Ideen wird die (intrinsische) Motivation der Kinder gesteigert und sie erleben Selbstwirksamkeit. „Selbstwirksamkeit entsteht […] nur dann, wenn die Person die Erfolge auch auf ihr eigenes Handeln zurückführt“ 4. Eine gute Unterstützung und Begleitung der pädagogischen Fachkräfte tragen ebenfalls zu einer erhöhten Motivation bei. Die pädagogischen Fachkräfte und das Kind bzw. die Kinder begeben sich dazu in einen Prozess der Ko-KonstruktionKo-Konstruktion bedeutet die soziale Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen, die eine lernende Gemeinschaft bilden.
Durch den Austausch von Ideen, das Lösen von Problemen und das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven werden neue Lerninhalte erarbeitet. Dabei stehen die Erforschung und Diskussion von Bedeutungen im Vordergrund, weniger der Erwerb von Fakten.
Sich mit hochbegabten Kindern und Jugendlichen auf ko-konstruktive Lerngelegenheiten einzulassen, ermöglicht eine hohe Qualität individueller Förderung. Ko-konstruktives Lernen vermittelt eine positive Haltung gegenüber den besonderen Eigenschaften der Lernenden und wertschätzt ihr Vorwissen, ihre Überzeugungen und kreativen Ideen. Mehr. Sie treten in eine Lerngemeinschaft ein, was eine professionelle Haltung und Selbstreflexion der pädagogischen Fachkraft erfordert. Die pädagogische Fachkraft übernimmt auch den pädagogisch diagnostischen Begleitprozess aus BeobachtungIn der Begabungs- und Begabtenförderung werden Beobachtungen und deren Dokumentation als ein Teil der pädagogischen Diagnostik eingesetzt, um besondere Begabungen bei Kindern und Jugendlichen erkennen zu können. Ziel ist es, Erkenntnisse z. B. über das Spiel-, Sozial- oder Lernverhalten von Kindern und Jugendlichen in der Kita oder Schule zu erhalten und auf dieser Grundlage pädagogische Entscheidungen zu treffen. Beobachtungen können dabei mithilfe von Checklisten oder Beobachtungsbögen, Portfolio, Bildungs- und Lerngeschichten durchgeführt werden. Mehr, DokumentationDie Dokumentation von Bildungsprozessen dient als Grundlage für die pädagogische Arbeit und pädagogische Entscheidungen in Kita und Schule und ist fester Bestandteil der Pädagogischen Diagnostik.
Ziel (früh-)pädagogischer Beobachtung und Dokumentation ist die Klärung, ob das pädagogische Angebot zu den Bedürfnissen des sich entwickelnden und lernenden Kindes passt und wie diese Angebote optimiert werden können. Mithilfe guter Dokumentation kann somit auch die Passung von Förderangeboten zu den Bedürfnissen hochbegabter Kinder überprüft und verbessert werden. Zu den (früh-)pädagogischen Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren zählen beispielsweise das Portfolio, Bildungs- und Lerngeschichten, Projektdokumentationen oder Produktpräsentationen sowie Checklisten oder Beobachtungsbögen. Mehr und Reflexion.
Methodisches Vorgehen
Die Methoden-Bausteine zum Frühen Service Learning finden Sie in der Toolbox »Methodisches Vorgehen«.
Frühes Service Learning = gelebte Partizipation
Frühes Service Learning ist in der Kita optimal praktizierbar, da die Methode den Kindern Möglichkeiten bietet, im Kita-Alltag aktiv und selbstbestimmt mitzuwirken. Für die pädagogischen Fachkräfte bedeutet das, den Kindern Freiraum in ihrem Wirken zu lassen, ihre Ideen und Themen wahrzunehmen sowie sie zu respektieren und PartizipationPartizipation bedeutet, dass Kinder einen Anspruch auf Beteiligung haben. Diese Beteiligung betrifft alle Bereiche ihres eigenen Lebens und ihres Aufwachsens. Partizipation ist ein Kinderrecht, das in der UN-Kinderrechtskonvention in Artikel 12 festgehalten wurde.
Das Verständnis, wie Partizipation umgesetzt werden soll, ist jedoch sehr unterschiedlich – so variiert es bereits zwischen dem Kita- und Schulbereich. Partizipation wird ermöglicht, indem Informationen für Kinder so aufbereitet werden, dass Kinder sie verstehen; Meinungen müssen gehört und Kinder sollen ermutigt werden, sich z. B. an Bildungsprozessen zu beteiligen. So muss es Kindern ermöglicht werden, auch an der Gestaltung ihrer eigenen Bildung mitzuwirken, was insbesondere für die Entfaltung von Begabungen eine entscheidende Rolle spielt. Mehr zu leben. Damit ist kein Mehraufwand verbunden, da die Kinder eigenständig mitwirken und einen Teil ihrer Routine selbst übernehmen: In unserem Fallbeispiel war das die Durchführung des Morgenkreises, der von den Kindern vorbereitet und moderiert wurde, statt von den Fachkräften selbst.
Das Vorbereiten und Moderieren des Morgenkreises sind die eigentlichen „Service“-Leistungen und auch die Aneignung des Lerninhalts für das betreffende Kind. Die anderen Kinder lernen am Modell, und alle Beteiligten lernen zusätzlich Aspekte des Expert:innenwissens. Die Kultur des Lernens orientiert sich stets an den Interessen der Kinder sowie ihrer intrinsischen (Lern-)Motivation, sodass ihre Begabungspotenziale Einzug in die Gestaltung des Kita-Alltags halten.
Das Frühe Service Learning bietet durch das wertschätzende Aufgreifen der Ideen und Themen der Kinder vielfältige Einsatzmöglichkeiten, die für alle Beteiligten einen Mehrwert bieten. Angebote, die den Gedanken des Frühen Service Learning entsprechen, können InklusionGrundgedanke der Inklusion ist, dass nicht Menschen sich an ein bestehendes System anpassen müssen, sondern das jeweilige System an diese. Im Falle einer inklusiven Begabungsförderung heißt das, dass das Bildungssystem so flexibel sein muss, dass alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihren jeweils spezifischen Lernvoraussetzungen, Interessen und Bedürfnissen sowie unabhängig von Geschlecht, Kultur, sozialer Herkunft oder sozioökonomischem Status in ihrer Entwicklung gefördert werden.
Häufig wird der Begriff Inklusion ausschließlich im Zusammenhang von Menschen mit Behinderungen benutzt. Ein umfassendes Inklusionsverständnis umfasst jedoch alle Ausprägungen von Vielfalt. Auch eine Hochbegabung ist dann ein Merkmal von Heterogenität, auf das eine pädagogische Institution angemessen reagieren können muss. Mehr und Teilhabemöglichkeiten von allen, jedoch im Besonderen von (hoch-)begabten Kindern unterstützen. Als gelebte Praktik kann sie zu einer inklusiven Kita beitragen, in der jedes Kind in seiner Individualität und Vielfalt anerkannt und wertgeschätzt wird.
Quellen
1 Seifert, A.; Zentner, S.; Nagy, F. (2019): Praxisbuch Service-Learning, 2. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz, S. 13.
2 Ruckdeschel, R. (2013): Verantwortungsgenese im Elementarbereich am Beispiel der Hans-Georg Karg Kindertagesstätte, Nürnberg. In: Hackl, A.; Pauly, C.; Steenbuck, O.; Weigand, G. (Hrsg.): Begabung und Verantwortung. Karg-Hefte – Beiträge zur Begabtenförderung und Begabungsforschung, 5. Frankfurt a. M.: Karg-Stiftung, S. 59.
3 Seifert, A.; Zentner, S.; Nagy, F. (2019): Praxisbuch Service-Learning, 2. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz, S. 13.
4 Ebd., S. 136.
Unsere Autor:innen
Lisa Pohlmeier
ist Kindheitspädagogin und leitete mehrere Jahre eine Kindertageseinrichtung in Hamburg. Seit 2020 ist sie als Projektleitung Frühe Bildung bei der Karg-Stiftung und begleitete die Hans-Georg Karg Kindertagesstätte – Haus für Frühe Bildung und Begabung bei der operativen Umsetzung des Frühen Service Learning. In anderen bundesweiten Projekten begleitet sie Kitas auf ihrem individuellen Weg und in ihrer Entwicklung zu begabungsförderlichen Einrichtungen.
Reinhard Ruckdeschel
war langjähriger Leiter des Hauses für Frühe Bildung und Begabung in Nürnberg und Fachbereichsleiter Kinder, Jugend, Familie im CJD Bayern. Die Idee und die Implementierung des Frühen Service Learning in der Einrichtung war eine von vielen innovativen pädagogischen Entwicklungen, die er in dieser Zeit in der Einrichtung erfolgreich umsetzte. 2023 konnte Ruckdeschel seine Leitungsaufgaben abgeben und ist seitdem freiberuflich als Psychologe und Autor tätig.
Beatrix Hirschbolz-Ter
arbeitet seit 2006 in der Hans-Georg Karg Kindertagesstätte – Haus für Frühe Bildung und Begabung in Nürnberg. Sie ist Diplom-Kindergartenpädagogin, Angebotsleitung Elementarpädagogik des CJD Bayern sowie seit 2013 Leitung der Einrichtung. Mit dem Erkennen und Fördern von besonders begabten Kindern folgt sie ihrer Berufung. Als Lehrbeauftragte der EVHS Nürnberg sensibilisiert sie Fachkräfte für das Thema frühe Begabungsförderung, um Kinder in den Einrichtungen genau zu beobachten und sie nach ihren Bedürfnissen zu fördern.
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© Marion Vogel